Die Ursünde der bolschewistischen Revolution
Der Kronstädter Matrosenaufstand 1921
»Schluss mit dem Krieg!« war 1917 der Massenruf der Februarrevolution gewesen. Nun aber, als vier schwere Revolutionsjahre vergangen, die Gefechte des Bürgerkrieges und der Verteidigung gegen die ausländischen Interventionstruppen geschlagen waren, prägte nicht »Frieden« das Mutterland der Umwälzung zum Sozialismus. Der Geist und die Institutionen des Krieges überdauerten die Revolution, pressten den Wundkörper der Sowjetgesellschaft in den eisernen Harnisch der »Militarisierung der Arbeit«. Wie ein Generalstab seine Armee, so sollte auch der von den Bolschewiki errichtete Staat das arbeitende Volk in quasi-militärischen Organisationsformen zur Erfüllung der Planwirtschaft kommandieren. Es war Leo Trotzki, oberster Befehlshaber der Streitkräfte und in gewagten Abstraktionen denkender Politintellektueller, der diesen harschen Vorgang mit Billigung Lenins zu verwirklichen suchte.
Doch wie schon den Jakobinern der Französischen Revolution das Recht auf diktatorische Staatsführung nach dem Sieg über die Konterrevolution streitig gemacht, ihr Erfolg durch den Regierungssturz im Thermidor 1794 abgefälscht wurde, so gerieten jetzt auch die Bolschewiki in eine politische Krise. Diese beschwor die Gefahr des Sturzes der Partei- und Staatsführung, des Scheiterns der Revolution herauf. Schon das Fiasko der Absichten Lenins, die »Weltrevolution« auf den Bajonettspitzen der Roten Armee nach Polen, Deutschland, Europa zu tragen, mengte in die heroischen Symphonien des allgemeinen Sieges auch den Missklang der Niederlage. Breite Stimmungen der Kriegsmüdigkeit, der Enttäuschung, sogar des Widerstands erhoben sich gegen die Kommunistische Partei.
In vielen Landesteilen entbrannten Hungerrevolten und Bauernaufstände. Auch in der dezimierten Arbeiterklasse, den Gewerkschaften, der Partei selbst, formierte sich eine politische Opposition. Ihr wesentlicher Beweggrund erwuchs aus dem latenten Spannungsverhältnis, das durch die Begriffe »sozialistische Demokratie« oder »proletarische Diktatur« zu bezeichnen ist. Bei Revolutionsbeginn hatte Lenin einen Volksstaat nach dem historischen Vorbild der Pariser Kommune, eine Demokratie der breiten Massen des arbeitenden Volkes versprochen. Doch im Verlauf der Revolution war ein Ein-Partei-Regime mit wachsender Allmacht und Zentralisierung der Bolschewiki entstanden: eine Parteidiktatur, die schwer und bedrückend die Basisdemokratie der Arbeiter- und Bauernsowjets, überhaupt alle revolutionär-demokratischen Parteien und Institutionen überschattete.
Am 27. Februar 1921, dem vierten Jahrestag der Februarrevolution, erschien an Petrograds Mauern der Aufruf zu einer besseren Revolution: »Vor allem brauchen die Arbeiter und Bauern Freiheit. Sie wollen nicht nach den Dekreten der Bolschewiki leben, sondern ihr Schicksal selbst bestimmen. Wir fordern die Freilassung aller verhafteten Sozialisten und nicht parteigebundenen Arbeiter, die Aufhebung des Ausnahmezustands, die Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit für alle, die arbeiten. Freie Wahlen von Fabrikkomitees, freien Gewerkschaften und Sowjets!« Nicht selten gerann der Massenzorn auch in der Losung: »Sowjets – ohne Kommunisten!«
Seit Wochen zerrissen enttäuschte und wütende Angehörige der Kommunistischen Partei ihre Mitgliedsausweise. In den Fabriken versammelten sich streikende Arbeiter, stimmten unter dem Einfluss von Menschewiki und Sozialrevolutionären für eine neue und freie Wahl der Arbeitersowjets sowie für die Wiedereinberufung der gewählten, im Januar 1918 vertriebenen parlamentarischen Landesvertretung: der Konstituierenden Versammlung. Die Arbeiter der Schiffswerften und Docks, der Metallindustrie, darunter Tausende aus den Putilow-Werken, schlossen sich den Streikenden an. Auf dem Newski-Prospekt und der Wassili-Insel in Petrograd tötete und verwundete das Militär rund 30 Demonstranten. Doch viele Soldaten verweigerten sich dem Schießbefehl. Matrosen des Kreuzers »Aurora« gingen von Bord, um an den Protesten teilzunehmen. Die Ereignisse erinnerten an den Losbruch der Februarrevolution – mit dem Unterschied, dass jetzt nicht der Sturz des Zaren, sondern der Rücktritt der Regierung Lenins verlangt wurde.
Der Funke des Massenprotestes sprang vom Festland auf die legendäre Seefestung im Finnischen Meerbusen hinüber: auf Kronstadt. Matrosen, die zur Erkundung nach Petrograd entsandt waren, kehrten am 28. Februar auf die Insel zurück. Ihr Bericht entflammte eine stürmische Versammlung der Mannschaft des Großkampfschiffes »Petropawlowsk«, wo noch am selben Abend entschiedene Forderungen erklangen: »Freie Wahlen für neue Sowjets! Rede-, Presse-, Versammlungsfreiheit für Arbeiter und Bauern, für alle sozialistischen Parteien und Gewerkschaften!« Anstelle der materiellen Begünstigung von Funktionären und Offizieren wurden »Gleiche Rationen für alle Werktätigen!« verlangt. Und, was die ländliche Herkunft vieler Matrosen widerspiegelte: »Freiheit für die Bauern!« Das hieß: freie Verfügung über den Bodenbesitz.
Da es Kronstädter Matrosen gewesen waren, die aufgrund von Lenins Befehl die Konstituierende Versammlung aufgelöst hatten, stand die Einberufung der Konstituante nicht auf ihrem Forderungskatalog. Doch wie 1917, so sollten die neuen Sowjets von Deputierten aller sozialistisch gesinnten Parteien – einschließlich der Bolschewiki – gebildet werden. Die auf dem Festland formulierte Losung »Sowjets – ohne Kommunisten!« wurde von den Matrosen nicht erhoben. Das ermutigte in Kronstadt befindliche Bolschewiki, sich der Empörung anzuschließen. Am 1. März beschloss eine Kundgebung auf dem Kronstädter Ankerplatz die Neuwahl der Sowjets. Schon am Folgetag trafen sich 300 Delegierte. Weil aber ein Angriff der Regierungstruppen unmittelbar drohte, wählte man fürs erste ein Komitee zur Leitung der Verteidigung.
Es war die Elitetruppe des »Roten Oktobers«, die das Banner der Sowjet-Demokratie gegen die Regierung der Bolschewiki hisste. Zeitgenössische Parteijournalisten und spätere Historiker der Sowjetunion haben behauptet, die »Meuterer« Kronstadts seien nicht mehr die proletarischen Matrosen von 1917, sondern »Bauernjungen in Marineuniform« gewesen, die aus ihren Dörfern »anarchistische« und »kleinbürgerliche« Ideen eingeschleppt hätten. Es war Lenin selbst, der die Kronstädter im Parteibericht als »kleinbürgerliche Anarchisten« verschrie: »Ihr Verlangen nach Erneuerung der Sowjetmacht und ihr Versprechen, das Revolutionsprogramm der Bolschewiki« mit anderen Methoden« zu verwirklichen, entlarve sie als bloße Handlanger der Konterrevolution. Tatsächlich aber waren viele der Empörer von 1921 die Roten Matrosen von 1917. Damals hatte Trotzki sie als »Ruhm und Stolz der Revolution« gefeiert. Nun, mit der Befehlsgewalt der diktatorischen Staatsführung ausgerüstet, drohte er den Kronstädtern: Sie würden »abgeschossen wie die Hasen«, wenn sie nicht sofort kapitulierten.
Die Regierungsoffensive gegen die Inselfestung begann am 7. März mit einem stundenlangen Artilleriebeschuss von der Küste aus. Am nächsten Tag folgte der Infanterieangriff unter General Tuchatschewski: etwa acht Kilometer weit über die vereiste See – durch Schneesturm begünstigt. Indes schossen Kronstadts Schiffe und Festungsanlagen mit schweren Geschützen, sprengten klaffende Rinnen in das Eis, so dass viele der Angreifer ertranken. Während die regierenden Bolschewiki ihren X. Parteitag, den Parteitag des Friedens, in Moskau eröffneten, brachen ihre Truppen im Finnischen Meerbusen ein.
Das siegreiche Revolutionskomitee von Kronstadt entmachtete den bürokratischen Staats- und Militärapparat, organisierte die Neuwahlen der Gewerkschaften und begann mit den Wahlvorbereitungen für neue Sowjets der Arbeiter und Soldaten. Doch am 16. März wiederholte die Regierung ihren Angriff mit schwerem Artilleriefeuer und Flugzeugbomben, und am 17. stürmten im Dämmer des Morgens etwa 50 000 Mann abermals über die gefrorene See. Mehr als 10 000 starben im Abwehrfeuer der Kronstädter, die sich erst nach 18 Stunden des Kampfes ergaben. 8000 Rebellen gelang die Flucht über den vereisten Meerbusen nach Finnland. Von den auf russischem Territorium gemachten Gefangenen wurden 2500 standrechtlich erschossen.
Die brutale Niederschlagung der Matrosen und Arbeiter Kronstadts bedrückte nicht wenige Bolschewiki, so die von den Altbolschewiki Alexandra Kollontai und Alexander Schljapnikow vertretene »Arbeiteropposition«. Diese stritt gegen die »Militarisierung der Arbeit«, die Entmündigung der Gewerkschaften und die »Bürokratisierung«. Auch deren grundsätzliche Kritik, die Alexandra Kollontai im Manifest der »Arbeiteropposition« von 1921 niederschrieb, nannte Lenin eine »anarchistische Abweichung« kleinbürgerlicher Elemente. Er missbrauchte die Streitigkeiten zur Durchsetzung eines geheimen Beschlusses, der künftighin für alle Parteien des bolschewistischen Typus zum Verhängnis werden sollte: dem Verbot der Bildung von Fraktionen. Erst im Januar 1924 bekannt gemacht, sollte es in der Folgezeit nicht mehr revidiert werden. Der Beschluss gereichte nach dem Machtantritt Stalins dazu, die Demokratie in der Kommunistischen Partei dauerhaft zu vernichten. Das zentrale Politbüro konnte die Partei mit demselben diktatorischen Anspruch führen, wie die Partei das Land und das Volk beherrschte.
Nachdem somit die Einheit und die Macht der Bolschewiki für nahe Zukunft gesichert schienen, bewies Lenin aber auch außergewöhnliche Strategie und politische Wendigkeit. Er warf das Staatsruder herum und steuerte einen neuen Kurs in einer der wichtigsten Fragen der russischen Revolution – der Bauernfrage. Seit Februar 1917 schon war diese neben der Antikriegsbewegung entscheidend gewesen. Lenin hatte die Liquidation des Großgrundbesitzes vollziehen lassen, jedoch die Warnungen vor der Verschiedenheit der Interessen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft in den Wind geschlagen. Im Sommer 1918 hatte er sogar geglaubt, den »Kommunismus« im Land der weithin überwiegenden Kleinbauern per Dekret einführen zu können. Erst jetzt, nach Kronstadt, formulierte er das spezifische Problem der russischen Revolution: »Bei uns ist das Proletariat nicht nur in der Minderheit, sondern in der verschwindenden Minderheit, die Bauernschaft aber bildet die ungeheure Mehrheit ... Die Interessen dieser zwei Klassen sind verschieden, der kleine Landwirt will nicht dasselbe, was der Arbeiter will.« Um den Gegensatz zwischen Volkseigentum und bäuerlichem Landbesitz auszugleichen, sollte der Bauer an höherer Arbeitsleistung interessiert werden, indem er einen steuerfreien Teil seiner Produktion auf dem Warenmarkt verkaufen konnte.
Der Mann, der jetzt für die »Neue ökonomische Politik« (NÖP), die staatlich kontrollierte Zulassung kapitalistischer Warenproduktion warb, war durchaus in der Lage, Misserfolge und Fehler zu reflektieren. Auf dem X. Parteitag sagte er: »Wenn jemand unter den Kommunisten davon geträumt hat, dass sich in drei Jahren die ökonomische Basis ... umgestalten lasse, so war er natürlich ein Phantast ... Wie hätte auch in einem solchen Lande ohne Phantasten die sozialistische Revolution begonnen werden können?«
Der Revolutionsforscher Professor Helmut Bock, Jg. 1928, war Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR.
»Wer hätte zu Beginn der Revolution von ›unteren‹ und ›oberen‹ Schichten gesprochen? Die Massen, die Arbeitermassen, und die leitenden Parteiinstanzen waren eins. Die Hoffnungen, die in den unteren Schichten das Leben und den Kampf geboren haben, fanden ihren klarsten Widerhall, ihre klarste und wissenschaftliche Formulierung in den leitenden Parteiinstanzen. Ein Gegensatz zwischen oberen und unteren Schichten war undenkbar. Heute besteht dieser Gegensatz; mit keiner Agitation, mit keinen terroristischen Methoden wird aus dem Bewusstsein der breiten Massen hinweggeleugnet werden können, dass eine charakteristische neue ›soziale Schicht‹ der sowjetistischen Parteispitzen entstanden ist.«
Alexandra Kollontai, in »Was bedeutet die Arbeiteropposition?«, 1921
»Wir haben ... sehr viel gesündigt, weil wir zu weit gegangen sind: wir sind zu weit gegangen auf dem Wege der Nationalisierung des Handels und der Industrie, auf dem Wege der Drosselung des lokalen Umsatzes. War das ein Fehler? Zweifellos. In dieser Beziehung war vieles von dem, was wir getan haben, einfach falsch.«
W.I. Lenin auf dem X. Parteitag der KPR(B) am 15. März 1921
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