Vom Lebenswasser zum Suchtgift
Ein Streifzug durch die wechselvolle Kulturgeschichte des Alkohols
Wenn es um den Genuss von Alkohol geht, ist unsere Gesellschaft gespalten. Einerseits findet kaum eine Festlichkeit statt, bei der nicht zumindest Bier und Wein in Strömen fließen. Andererseits warnen Ärzte, dass der regelmäßige Konsum von Alkohol Menschen krank und abhängig macht. Allein in Deutschland sterben jedes Jahr rund 74 000 Männer und Frauen an den Folgen von Alkoholmissbrauch (Verkehrstote eingerechnet). Dennoch gilt es üblicherweise als weltfremd, wenn Alkoholkritiker fordern, das öffentliche Angebot an Spirituosen aller Art drastisch zu reduzieren. Dabei genügt ein Blick auf den muslimischen Kulturkreis, um zu erkennen, dass Alkoholika als Lebensmittel keineswegs unverzichtbar sind.
Zugegeben, das war nicht immer so. »In früheren Zeiten hatten leichte alkoholische Getränke einige unschätzbare Vorteile«, meint der amerikanische Biochemiker Bert L. Vallee. So wurden insbesondere Bier, Wein und Met wegen ihres hohen Kaloriengehalts von vielen Menschen als Nahrungsmittel geschätzt. Und sie galten im Gegensatz zu Wasser, das bis in die jüngere Vergangenheit hinein oft verseucht und ungenießbar war, als relativ saubere Trinkflüssigkeiten. Vallee spricht daher vom Alkohol als der »Muttermilch der Zivilisation«. Der österreichische Autor Christian Mähr sieht das ähnlich. Er hält den Alkohol für diejenige chemische Substanz, die unsere Welt am nachhaltigsten verändert hat. »Das Abendland ist alkoholgetränkt; es riecht danach von Anbeginn«, schreibt Mähr in seinem lesenswerten Buch »Von Alkohol bis Zucker« (Dumont, 223 S., 16,95 Euro), in dem er – anlässlich des Internationalen Jahres der Chemie 2011 – auch eine Antwort darauf gibt, wie es dazu kam.
Ursprünglich stand das arabische Wort »alkuhl« für ein feines Antimonpulver, das zum Schminken der Augen verwendet wurde. Mit der Eroberung Spaniens durch die Muslime gelangte das Wort nach Europa, wo Paracelsus ihm seine bis heute gebräuchliche Bedeutung gab. Fortan bezeichnete »alcohol vini« die flüssige »Weinessenz«, die man zuvor »aqua vitae«, Lebenswasser, genannt hatte.
Man darf wohl annehmen, dass die älteste Rauschdroge der Menschheit eher zufällig entdeckt wurde, etwa beim Verzehr von gärendem Fallobst. Wann unsere Vorfahren dazu übergingen, alkoholische Getränke selbst herzustellen, darüber lässt sich heute nur spekulieren. Vermutlich geschah dies nach der Einführung des Getreide- und Weinanbaus in Vorderasien und Nordafrika. Tatsächlich finden sich bereits auf über 5000 Jahre alten ägyptischen Schriftrollen Hinweise auf die Herstellung von Bier und Wein.
Bei den Griechen und Römern gehörte namentlich der Wein zum festen Bestandteil ihrer Kultur. Aber er war nicht nur Genussmittel und Sakralgetränk zu Ehren der Weingötter Dionysos und Bacchus, sondern wurde ebenso für medizinische Zwecke verwendet, zum Beispiel zur Desinfektion. Warnungen vor übermäßigem Alkoholverzehr gab es schon in frühgeschichtlicher Zeit, und sie fanden Eingang auch ins Alte Testament. So heißt es bei Jesaja 5,11: »Weh denen, die des Morgens früh auf sind, des Saufens sich zu fleißigen, und sitzen bis in die Nacht, dass sie der Wein erhitzt.«
Im Neuen Testament wird der Alkoholgenuss teilweise rehabilitiert. So verwandelte Jesus auf der Hochzeit zu Kana nicht nur Wasser in Wein. Er trank letzteren wohl auch gern, wofür unter anderem spricht, dass seine Feinde ihn als »Fresser und Weinsäufer« (Mt, 11,19) verleumdeten. Im letzten Abendmahl erhob Jesus den Wein zu einem religiösen Symbol ersten Ranges. »Von da an war das Christentum untrennbar mit einer Kultur des Weines verbunden«, schreibt Mähr und ergänzt, dass die Christianisierung der Germanen, die gewohnt waren, Unmengen von Leichtbier und Met in sich hineinzuschütten, durch diesen Tatbestand zumindest nicht behindert wurde.
Dabei hatte Paulus in seinem Brief an die Epheser ahnungsvoll gemahnt: »Und sauft euch nicht voll Wein, sondern lasst euch vom Geist erfüllen.« Es half nichts. Das Mittelalter wurde nach Mährs Worten »eine Art nie endendes Oktoberfest«, bei dem die Deutschen sich besonders hervortaten. Das wiederum bestätigte kein Geringerer als Martin Luther, der vom »teutschen Teufel Sauff« sprach, welcher so durstig sei, dass er von Wein und Bier niemals genug habe.
Waren diese eher leichten Alkoholika oft nur Ersatz für verunreinigtes Wasser, gab die große Pestepidemie, die Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa wütete, den Startschuss für den Konsum hochprozentiger Getränke. Unter den Menschen, die damit hinfort ihre Gesundheit ruinierten, waren besonders viele Proletarier. Während der Zeit der Industrialisierung griffen sie zur Schnapsflasche, um ihr menschenunwürdiges Dasein halbwegs erträglich zu gestalten, wie Friedrich Engels bemerkte. Nicht wenige Unternehmer gaben Branntwein sogar kostenlos ab, um ihren Arbeitern die meist schwere Tätigkeit zu »erleichtern«. Erst als die deutsche Industrie dazu überging, komplizierte Geräte herzustellen, wurde Nüchternheit am Arbeitsplatz zur unabdingbaren Voraussetzung. Wer dagegen verstieß, musste mit empfindlichen Strafen rechnen, so wie es auch heute noch üblich ist.
Das aufstrebende Bürgertum hatte dagegen schon früher auf den maßlosen Genuss von Alkohol verzichtet. Es bevorzugte als Stimulanzien stattdessen Kaffee und schwarzen Tee, die beide hygienisch unbedenklich waren, wurden sie doch mit kochendem Wasser zubereitet. Der französische Historiker Jules Michelet erhob den Kaffee gar zum Getränk der Aufklärung, da er die »nebelhaften Imaginationen« des Alkohols verdrängt und bei den Bürgern das klare und scharfe Denken gefördert habe. So betrachtet, war es vielleicht kein Zufall, dass der Anwalt Camille Desmoulins am 12. Juli 1789 ausgerechnet in einem Kaffeehaus den Bürgern von Paris zurief: »Zu den Waffen!«. Kurz darauf begann die französische Revolution.
Auf lange Sicht vermochten Kaffee und Tee den Alkohol freilich nicht zu verdrängen. Auch dann nicht, als Wissenschaftler den Nachweis erbrachten, dass es sich hier um ein heimtückisches Suchtgift handelt, welches viele Menschen in die Abhängigkeit treibt. 1920 ging man in den USA verzweifelt dazu über, die Herstellung und den Vertrieb alkoholischer Getränke gesetzlich zu verbieten (Prohibition). Da jedoch der Schmuggel und die Schwarzbrennerei von Alkohol zu einem rasanten Anstieg der organisierten Kriminalität führten, wurde das Verbot 1933 wieder aufgehoben.
Statistisch gesehen konsumiert jeder Erwachsene in Deutschland heute pro Jahr umgerechnet 12,8 Liter reinen Alkohol. Zum Vergleich: Der Weltdurchschnitt liegt bei nur 6,1 Litern. Weniger als fünf Prozent aller erwachsenen Bundesbürger leben völlig abstinent und somit ohne Risiko, irgendwann alkoholabhängig zu werden. In anderen Kulturen ist dieser Anteil weitaus größer. Und das hat nicht nur etwas mit religiösen Geboten zu tun. Namentlich in China, Korea und Japan mangelt es vielen Menschen an einem speziellen Enzym zum Alkoholabbau, so dass ihnen schon nach dem Genuss kleiner Mengen Bier oder Wein übel wird. Einer neuen Studie zufolge geht dieses Merkmal auf eine Genmutation zurück, die vor rund 8000 Jahren auftrat und ihre Träger davon abhielt, den bei der Reisverarbeitung entstehenden Alkohol zu trinken. In der westlichen Welt hat die Jahrhunderte währende Zecherei indes nicht ausgereicht, einen ähnlichen Alkoholschutz im Erbgut zu verankern. Ob dieser Unterschied auf lange Sicht vielleicht sogar den wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen Ost und West beeinflussen wird, ist eine Frage, die sich derzeit nicht beantwortet lässt.
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