Angeln mit »geeignetem länglichen Gegenstand«
Prozessauftakt gegen einen Betrüger, der Besitzer von EC-Karten in Mitte um 300 000 Euro erleichterte
Die Masche ist uralt. Doch für Herrn Sirko A. war sie über ein Jahr lang ein einträgliches Geschäft. Er soll laut Anklage zwischen 2005 und 2006 mit einem »geeigneten länglichen Gegenstand« aus Briefkästen Briefe mit EC-Karten und PIN herausgeangelt haben, um dann die Konten zu plündern.
Auf der Anklagebank sitzt ein elegant gekleideter Herr, Berliner, 38 Jahre, mit Schlips und Kragen, sauber gebügelt und gestriegelt. Er sagt nichts, sein Beruf »Musikproduzent« ist der Anklageschrift zu entnehmen. Mehr erfahren wir nicht über ihn. Er schweigt. Dafür muss die Staatsanwältin fast eine Stunde reden, um alle Missetaten aufzuzählen. Es sind 262 Fälle, die mit Uhrzeit und Schadenssumme aufgelistet werden. Herrn Sirkos Revier war die Gegend rund um den Alexanderplatz, Memhardstraße, Rathausstraße, Leipziger Straße, Heinrich-Heine-Viertel.
Was da im Detail geschah, schilderte am ersten Prozesstag ein 69-jähriger Zeuge, Zahnarzt im Ruhestand. In seinem Briefkasten fand er eines Tages einen Brief der Postbank mit dem freundlichen Hinweis auf die neue EC-Karte. Die Karte war herausgetrennt. Drei Tage später der nächste Brief mit dem Hinweis auf die Geheimzahl. Doch auch dieser Teil fehlte. Der Zahnarzt informierte sofort Bank und Polizei. Dort stapelten sich die Anzeigen. 40 Geldkarten soll sich Sirko A. beschafft haben, einschließlich der Geheimzahlen. Hatte er Karte und Zahl, hob er alle Tage Beträge ab. Meist waren es 500 Euro, mitunter auch 4000 oder manchmal 20. Wie viel insgesamt in seine Hände gerieten, hat die Staatsanwaltschaft nicht errechnet, es müsste sich aber um eine Summe um die 300 000 Euro handeln. Schon nach Verlesung der Anklage ergeben sich Fragen über Fragen. Wie soll der Mann die richtigen Briefe aus den Briefkästen geangelt haben, ohne sie zu beschädigen? Was könnte das für ein »geeigneter länglicher Gegenstand« gewesen sein, der das Hindernis Sicherheitsblech überwindet? Die Staatsanwältin zuckt mit den Schultern. Dann wäre da noch die Frage: Woher wusste der Täter, wann die Briefe mit der EC-Karte im Briefkasten liegen? Oder hat er tonnenweise Briefe rausgeangelt, um die 40 mit der Karte und die 40 mit der PIN zu finden? Und schließlich: Ist es über ein Jahr lang in einem Hausflur nicht aufgefallen, dass ein Mann Briefe mit einem »geeigneten länglichen Gegenstand« aus dem Briefkasten holt, statt den Schlüssel zu benutzen?
All die Fragen lassen nur einen Schluss zu: Sirko A. hatte Helfer bei der Post. Möglicherweise sind die ungeöffneten Briefe gar nicht in die Briefkästen gelangt, sondern wurden schon vorher geplündert. Doch nichts davon in der Anklage. All das konnte das Gericht am ersten Verhandlungstag nicht aufklären. Es strebt offensichtlich einen Deal mit dem Angeklagten an. Er soll ein Geständnis ablegen und bekommt dafür als Gegenleistung eine Strafe, die im unteren Bereich des Möglichen angesiedelt ist. Das spart einen langwierigen Prozess mit sehr vielen Zeugenaussagen, verhüllt aber möglicherweise, wer bei dem Coup mit abkassiert hat. Die Kartenopfer haben die abgehobenen Beträge von ihren Kreditinstituten anstandslos erstattet bekommen.
Die jüngste Masche übrigens, um an das Geld der Kartenkunden zu kommen, funktioniert auch mit einem »geeigneten Gegenstand«. Die Täter kleben mit einer Attrappe den Schacht zu, aus dem das Geld aus dem Automaten kommt. Bleibt die Klappe verschlossen und der Kunde verschwindet, weil keine Scheine rausgekommen sind, greifen die Täter zu und entfernen die Attrappe mit dem dahinterliegenden Geld. So einfach funktioniert das.
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