Angeln mit »geeignetem länglichen Gegenstand«

Prozessauftakt gegen einen Betrüger, der Besitzer von EC-Karten in Mitte um 300 000 Euro erleichterte

  • Lesedauer: 3 Min.
Peter Kirschey aus Berliner Gerichtssälen
Peter Kirschey aus Berliner Gerichtssälen

Die Masche ist uralt. Doch für Herrn Sirko A. war sie über ein Jahr lang ein einträgliches Geschäft. Er soll laut Anklage zwischen 2005 und 2006 mit einem »geeigneten länglichen Gegenstand« aus Briefkästen Briefe mit EC-Karten und PIN herausgeangelt haben, um dann die Konten zu plündern.

Auf der Anklagebank sitzt ein elegant gekleideter Herr, Berliner, 38 Jahre, mit Schlips und Kragen, sauber gebügelt und gestriegelt. Er sagt nichts, sein Beruf »Musikproduzent« ist der Anklageschrift zu entnehmen. Mehr erfahren wir nicht über ihn. Er schweigt. Dafür muss die Staatsanwältin fast eine Stunde reden, um alle Missetaten aufzuzählen. Es sind 262 Fälle, die mit Uhrzeit und Schadenssumme aufgelistet werden. Herrn Sirkos Revier war die Gegend rund um den Alexanderplatz, Memhardstraße, Rathausstraße, Leipziger Straße, Heinrich-Heine-Viertel.

Was da im Detail geschah, schilderte am ersten Prozesstag ein 69-jähriger Zeuge, Zahnarzt im Ruhestand. In seinem Briefkasten fand er eines Tages einen Brief der Postbank mit dem freundlichen Hinweis auf die neue EC-Karte. Die Karte war herausgetrennt. Drei Tage später der nächste Brief mit dem Hinweis auf die Geheimzahl. Doch auch dieser Teil fehlte. Der Zahnarzt informierte sofort Bank und Polizei. Dort stapelten sich die Anzeigen. 40 Geldkarten soll sich Sirko A. beschafft haben, einschließlich der Geheimzahlen. Hatte er Karte und Zahl, hob er alle Tage Beträge ab. Meist waren es 500 Euro, mitunter auch 4000 oder manchmal 20. Wie viel insgesamt in seine Hände gerieten, hat die Staatsanwaltschaft nicht errechnet, es müsste sich aber um eine Summe um die 300 000 Euro handeln. Schon nach Verlesung der Anklage ergeben sich Fragen über Fragen. Wie soll der Mann die richtigen Briefe aus den Briefkästen geangelt haben, ohne sie zu beschädigen? Was könnte das für ein »geeigneter länglicher Gegenstand« gewesen sein, der das Hindernis Sicherheitsblech überwindet? Die Staatsanwältin zuckt mit den Schultern. Dann wäre da noch die Frage: Woher wusste der Täter, wann die Briefe mit der EC-Karte im Briefkasten liegen? Oder hat er tonnenweise Briefe rausgeangelt, um die 40 mit der Karte und die 40 mit der PIN zu finden? Und schließlich: Ist es über ein Jahr lang in einem Hausflur nicht aufgefallen, dass ein Mann Briefe mit einem »geeigneten länglichen Gegenstand« aus dem Briefkasten holt, statt den Schlüssel zu benutzen?

All die Fragen lassen nur einen Schluss zu: Sirko A. hatte Helfer bei der Post. Möglicherweise sind die ungeöffneten Briefe gar nicht in die Briefkästen gelangt, sondern wurden schon vorher geplündert. Doch nichts davon in der Anklage. All das konnte das Gericht am ersten Verhandlungstag nicht aufklären. Es strebt offensichtlich einen Deal mit dem Angeklagten an. Er soll ein Geständnis ablegen und bekommt dafür als Gegenleistung eine Strafe, die im unteren Bereich des Möglichen angesiedelt ist. Das spart einen langwierigen Prozess mit sehr vielen Zeugenaussagen, verhüllt aber möglicherweise, wer bei dem Coup mit abkassiert hat. Die Kartenopfer haben die abgehobenen Beträge von ihren Kreditinstituten anstandslos erstattet bekommen.

Die jüngste Masche übrigens, um an das Geld der Kartenkunden zu kommen, funktioniert auch mit einem »geeigneten Gegenstand«. Die Täter kleben mit einer Attrappe den Schacht zu, aus dem das Geld aus dem Automaten kommt. Bleibt die Klappe verschlossen und der Kunde verschwindet, weil keine Scheine rausgekommen sind, greifen die Täter zu und entfernen die Attrappe mit dem dahinterliegenden Geld. So einfach funktioniert das.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.