Zu Fuß nach Sizilien

Vor 200 Jahren erfüllte sich Johann Gottfried Seume einen Traum

Am 6. Dezember 1801, in aller Frühe, rüstet er in Grimma zum großen Marsch. Er schnallt den Tornister, greift seinen Knotenstab und geht, begleitet vom Leipziger Malerfreund Veit Hans Schnorr von Carolsfeld, los. »Eine Karawane guter gemütlicher Leutchen«, beginnt er später seinen Bericht, »gab uns das Geleite bis über die Berge des Muldentals ... Unbemerkt suchte ich einige Minuten für mich ... und betete mein Reisegebet, daß der Himmel mir geben möchte billige, freundliche Wirte und höfliche Torschreiber von Leipzig bis Syrakus und zurück auf dem andern Wege wieder in mein Land; daß er mich behüten möchte vor den Händen der monarchischen und demagogischen Völkerbeglücker, die mit gleicher Despotie uns schlichten Menschen ihr System in die Nase heften wie der Samojede seinen Tieren den Ring.« Am 18. Dezember, schon in Prag, schickt Johann Gottfried Seume dem Verleger Göschen, in dessen Diensten er so lange stand, einen langen Brief. Zwanzig Pfund, schreibt er, hingen ständig an seiner Schulter, so dass er froh sei, die Last am Abend los zu werden. Viel hat er nicht dabei, nur das Nötigste: seinen blauen Frack, zwei Westen und zwei Hosen, ein Paar baumwollene und ein Paar wollene Strümpfe, zwei schwarze und zwei weiße Halstücher, zwei Schnupftücher, ein Paar Schuhe mit Schnallen und ein Paar Pantoffeln, einen Flickbeutel und dazu eine kleine Bibliothek mit dem abgenutzten Theokrit und den anderen Griechen. In den ersten Tagen ist alles glatt gegangen. Auf dem Polizeidirektorium in Dresden, wo die Pässe kontrolliert wurden, war man höflich und freundlich. In Böhmen allerdings liefen die Kinder vor ihm weg, »als ob ich ein Menschenfresser wäre oder wenigstens die Gurgeln abschnitte«. In Prag wollten die Wanderer ein bisschen herumlaufen, aber es lag viel Schnee, und man konnte keine zehn Schritte weit sehen. Am Neujahrstag 1802, in Wien, steht schon fest, dass er ohne den Freund weiterpilgern muss. »Man hat uns unterwegs und hier so viel Schreckbares erzählt, daß es auf den Grenzen und dort nicht ganz geheuer seye«, schreibt er wieder an Göschen, »daß es wohl die Pflicht eines Hausvaters ist, an seinen kleinen Bienenschwarm zu denken. Mit mir losgekettetem Menschen ist es eine andere Sache.« Seume, 38 Jahre alt, hat es zu einiger Berühmtheit bislang nur gebracht, weil ihn das Leben nicht schonte. Geboren als Sohn eines verarmten Bauern, hat er dank adligen Einsehens die Schule besuchen und ein Theologiestudium aufnehmen können, das er jedoch 1781 abbrach, um nach Paris, die Hochburg der Aufklärung, zu pilgern. Weit kam er allerdings nicht. In der Rhön griffen ihn hessische Werber auf, er wurde mit vielen anderen nach England verkauft, in eine Invasionstruppe gepresst und nach Amerika verfrachtet, wo die Söldner aber nicht mehr eingesetzt und im Herbst 1783 wieder nach Europa geschafft wurden. In Bremen desertierte er, wurde diesmal von preußischen Werbern geschnappt und beinahe vier Jahre lang in eine Uniform gesteckt. Danach studierte er in Leipzig Jura, Philologie und Philosophie, er promovierte und habilitierte sich sogar, doch was sollte er nun tun, wie Geld verdienen, ohne sich als Hauslehrer verdingen zu müssen? So wurde er Offizier in zaristischen Diensten, erlebte in Warschau den Aufstand des polnischen Volkes, kehrte schließlich nach Leipzig zurück und avancierte 1797 zum Verlagslektor und Korrektor in der Druckerei des Verlegers Göschen in Grimma. Da sitzt er nun, beschäftigt mit Wielands Prosa und den Werken Klopstocks, liest Korrektur, gibt auch mal der Neigung nach, hier und da etwas zu ändern, und hängt weiter seinem großen Traum nach. Er will nach Italien. Jetzt schwärme er im Geiste auf dem Ätna herum, hat er schon Ende 1798 erklärt und sich den Spaziergang nach Syrakus ausgemalt, wo er eine Weintraube essen und den Theokrit lesen würde. »Es muß recht herrlich sein, so dort einige Wochen in der schönen Natur und dem Geiste der griechischen Vorzeit zu schwelgen ...« Aber bevor er den geliebten Theokrit genießen kann, muss er sich durch tiefen Schnee und schauerliche Schluchten kämpfen. Er hält Wölfe in Schach, ärgert sich mit polternden Wirten herum und atmet auf, als er Venedig erreicht hat. Er findet dort »im allgemeinen höfliche, billige, freundschaftliche Leute«, nur die zwei Nymphen, die sich in seine Arme hängen und ihm hartnäckig ihre Dienste anbieten, kann er erst vergraulen, als er »in stärkstem Baßtone auf gut russisch« zu fluchen beginnt. In Rom dann, Anfang März, blickt er noch einmal auf Venedig, die katastrophalen Wege, die Bettler, die Gefahren und hat es schon wieder eilig, seinen Marsch nach Süden fortzusetzen. Er will nicht in der größten Hitze ankommen. Außerdem ist er nicht aufgebrochen, die historischen Sehenswürdigkeiten der Stadt zu bewundern. Seine Landsleute, die vor ihm da waren, Herder, Goethe oder Karl Philipp Moritz, suchten das klassische Rom, das große Bildungserlebnis. Er nicht. Er, der die »Krankheit« erbte, »keine Ungerechtigkeit sehen zu können«, studiert das gegenwärtige Italien, und wenn er sich eines Tages hinsetzt, um seinen »Spaziergang nach Syrakus« zu beschreiben, wird ein Bericht herauskommen, der sich von Goethes »Italienischer Reise« grundsätzlich unterscheidet. Seume ist gelehrt, natürlich, aber vor allem ist er ein Mann von ganz unten, einer, dessen Blicke nicht lange an prächtigen Denkmälern und schönen Landschaften hängen bleiben. Das übliche Programm, die Besichtigung der antiken Stätten und der modernen Bauten, der Kunstwerke und Bibliotheken, absolviert er in kurzer Zeit. Ein paar Blicke, und schon geht's weiter. Und wenn er darüber berichtet, braucht er meist nur wenige Zeilen. Da ist kein Kunstenthusiast am Werk, kein Schwärmer, der aus dem Staunen, dem grenzenlosen Entzücken nicht mehr herauskommt. Nicht einmal die Landschaft kann ihn wirklich faszinieren. Er beschreibt sie eher beiläufig und sonderbar abgeklärt. Jörg Drews, der jetzt die wunderschöne Neuausgabe des Buches im Insel-Verlag besorgt hat, spricht im Nachwort gar vom »leicht Banausischen seines Blicks«, von der »ostentativ mürrischen Nüchternheit«, die Seume zeigt. Dafür sieht der Wanderer, was seine Vorgänger nicht bemerkten oder zumindest nicht mitteilenswert fanden. »Die Straßen«, notiert Seume über Rom, »sind nicht allein mit Bettlern bedeckt, sondern diese Bettler sterben wirklich daselbst vor Hunger und Elend. Ich weiß, daß bei meinem Hiersein an einem Tage fünf bis sechs Personen vor Hunger gestorben sind.« Das ist kaum ausgesprochen, als er ein anderes Bild dagegen setzt: die prunkvolle Bestattung Pius VI., die selbst unter den Gläubigen ein Gemurmel auslöste, weil »man so viel Lärm und Kosten mit einem Toten mache, und die Lebendigen im Elende verhungern lasse«. »Rom«, sagt Seume, »ist oft die Kloake der Menschheit gewesen, aber vielleicht nie mehr als jetzt. Es ist keine Ordnung, keine Justiz, keine Polizei; auf dem Lande noch weniger als in der Stadt: und wenn die Menschheit nicht noch tiefer gesunken ist, als sie wirklich liegt, so kommt es bloß daher, weil man das Göttliche in der Natur durch die größte Unvernunft nicht ganz ausrotten kann.« Nein, gefällig ist dieser Reisende nicht. Je weiter er nach Süden kommt, um so rebellischer wird er. Er zeigt die chaotischen Verhältnisse im zerrissenen Italien nach den Feldzügen Napoleons, die Misswirtschaft, den Schmutz, die Armut des Volkes, die Verbrechen, die Verwahrlosung, den Aberglauben, die Willkür des Adels und die Verlogenheit des Klerus. »Ich blickte fluchend um mich her über den reichen Boden«, schreibt er, »und hätte in diesem Augenblick alle sizilianischen Barone und Äbte mit den Ministern an ihrer Spitze ohne Barmherzigkeit vor die Kartätsche stellen können.« Keiner, der vor ihm über Italien schrieb, hat das Land so radikal gemustert wie Seume, keiner war politisch so engagiert. Und auch sonst unterscheidet sich sein Buch, verfasst im Winter 1802/03, von allen Berichten, die damals schon vorlagen. Es ist lockerer und temperamentvoller, manchmal freilich auch laxer, weil Seume es mit den Fakten nicht immer so genau nimmt. Er erzählt, indem er auf Briefe und Notizen zurückgreift, einfach drauflos, ohne Korsett und ohne Fesseln (»Ich bin ein gar schlechter Systematiker«), die vorliegende Italienliteratur zwar irgendwie im Blick, aber doch frei von ihren Mustern. Er gibt sich aufgeräumt wie in einer Unterhaltung, immer im Kontakt mit dem Leser (den er hin und wieder anspricht), immer darauf bedacht, nicht zu langweilen. Er erzählt, wie er Sizilien auf Mauleseln erkundet. Wie er auf den Ätna klettert oder in die Hände von Banditen fällt. Erzählt auch den ganzen Rückweg über Rom, Florenz, Mailand, die Schweiz. Er reist nach Paris, wo gerade die Revolution gefeiert wird, und nutzt die Gelegenheit, sich gründlich mit Napoleon auseinander zu setzen, in dem er schon den kommenden Diktator erkennt. Zuletzt, in Weimar, freut er sich, »einige Männer wieder zu sehen, die das ganze Vaterland ehrt«. Und dann, wieder in Grimma, setzt er an den Schluss des Buches einen Dank: »Zum Lobe meines Schuhmachers, des mannhaften alten Heerdegen in Leipzig, muß ich Dir noch sagen, daß ich in den nehmlichen Stiefeln ausgegangen und zurückgekommen bin, ohne neue Schuhe ansetzen zu lassen, und daß diese noch das Ansehen haben, in baulichem Wesen noch eine solche Wanderung mit zu machen.« Der »Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802« erscheint im Frühjahr 1803. Noch im Februar meint Seume: »Das Buch wird mir wahrscheinlich bei den meisten eben keinen großen Kredit bringen, da es vielleicht nicht in dem bescheidensten Tone geschrieben ist.« So ganz täuscht er sich nicht. Zwar gibt's eine ansehnliche Schar von Käufern, aber ohne Kritik geht es nicht ab. Die einen wollen nicht glauben, dass er die ganze Strecke wirklich zu Fuß gegangen ist, andere bemängeln den burschikosen Ton des Berichts. Herders Frau Caroline nennt Seume einen »groben Bengel, der mit seinem Ränzel in den niedrigen Wirtshäusern durchgekrochen ist und von da aus die Städte und die Landesverfassung und die Sitten und den Charakter der Nation beurtheilt, und über die Ohren haut«. Für sie ist dieser »Spaziergang« einfach »unerträgliches Zeug«. Ganz anders der alte Wieland oder, zwanzig Jahre später, Heine. Der eine erklärt 1810, nach Seumes Tod, die Menschheit habe eine »ihrer größten u. leider! unerkannten Zierden verloren«, der andere spricht ausdrücklich vom »braven Seume« und guckt sich für seine Reisebilder nicht nur die raffinierte Assoziationstechnik ab. Heute gehört das Buch zu den starken, eigenwilligen und noch immer hinreißend frischen Zeugnissen unserer Literatur. Es ist auch das Populärste geblieben, was Seume hinterließ, neben dem Bericht »Mein Sommer 1805«, der seine zweite große Reise beschreibt, diesmal über Polen nach Moskau und zurück über Skandinavien. Fast unbekannt sind dagegen die (schwächeren) Gedichte, die Apokryphen sowie die politischen und literarischen Schriften, die in einer großzügigen Auswahl den zweiten Band der Seume-Ausgabe füllen, die Jörg Drews und Sabine Kyora im Deutschen Klassiker Verlag herausgegeben haben. Drews, Professor in Bielefeld und einer der besten Seume-Kenner, die es zur Zeit gibt, hat diese zwei Bände, unterstützt von Dirk Sangmeister, jetzt noch mit einer Sammlung der Briefe von und an Seume ergänzt, einer Edition, die zum ersten Mal alle Schreiben bringt, die heute erreichbar sind. Der umfangreiche und glänzend kommentierte Band füllt eine empfindliche Lücke. Er ist vor allem der Leidenschaft und Hartnäckigkeit eines Herausgebers zu danken, dem dieser bescheidene, politisch hellwache und wohl noch immer unterschätzte Seume ans Herz gewachsen ist. Es hat schon früher, erst in der DDR und dann in der Bundesrepublik, Anstrengungen gegeben, die Briefe des temperamentvollen Einzelgängers zu publizieren, aber die Versuche scheiterten kläglich, zunächst an ökonomischen Einwänden und später an den politischen Misslichkeiten in den Jahren des Kalten Kriegs. Im September 1802 ist Seume zurück. Neun Monate ist er weg gewesen, er hat dabei ungefähr sechstausend Kilometer zurückgelegt und sich nur manchmal ein Gefährt geleistet. Auch die letzte Strecke geht er nicht zu Fuß. Die Mutter in Posern bei Weißenfels, die von dem Vorfall mit den Banditen schon gehört hat, lässt ihn »bedächtlich in den Wagen packen und hierher an die Pleißenburg bringen«. Schnorr, der Maler, wirft vor Begeisterung den Pinsel weg, als er ihn sieht, und Seume räumt ein, »dass man bei der Rückkehr eines Freundes von den ...

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