Lehrer verweigern den Schulterschluss

Gemeinsamer Unterricht von Behinderten und Nichtbehinderten ist auch in NRW die Ausnahme

  • Carsten Grün
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Ausgrenzung behinderter Schüler geht dem Ende entgegen. Die UN-Konvention zur Inklusion, also zum prinzipiellen gemeinsamen Unterricht von Behinderten und Nichtbehinderten, wird einen Umbau der Schullandschaft nach sich ziehen. Deutsche Bildungspolitiker müssen ein Menschenrecht umsetzen. Wie lange das allerdings dauern wird, ist noch nicht abzusehen. Die Schwierigkeiten lauern in der Praxis, wie das Beispiel Nordrhein-Westfalen (NRW) zeigt.

Ute Kumar hofft darauf, dass behinderte und nichtbehinderte Kinder endlich gemeinsam die Schulen besuchen dürfen. Die Vorsitzende des NRW-Bündnisses »Eine Schule für alle« sieht in der UN-Konvention zur Inklusion die Möglichkeit, dass das Schulsystem gerechter wird. »In Deutschland werden die Menschenrechte endlich beachtet. Alle Kinder haben ein Recht darauf, individuell gefördert zu werden«, sagt die Lehrerin. Bislang waren solche Schüler an Förderschulen untergebracht. Kritik übt Kumar aber an der rot-grünen Landesregierung. »Das geht viel zu kleinschrittig und es wird zu viel Rücksicht auf die verschiedenen Bildungslobbys genommen«, kritisiert die frühere Pädagogin der Laborschule Bielefeld, die zu den bekanntesten Reformschulen Deutschlands zählt. Auch dass von den 17 neuen Gemeinschaftsschulen in NRW nur sieben offen für behinderte Kinder sind, sieht Kumar kritisch.

Kumars Initiative stößt durchaus auch bei Förderschullehrern auf Gegenliebe, allerdings mit Einschränkungen. »Die Standards in den Förderungen unserer Schüler dürfen nicht absinken«, sagt Klaus Zerwes, Leiter der Oberhausener Schillerschule, einer Schule mit dem Schwerpunkt für geistige Entwicklung. Zerwes weist auch auf die zu immensen Kosten hin, die ein Umbau des Schulsystems zue Folge hätte. »Wie sieht es dann mit Therapieräumen, Barrierefreiheit und der personellen Ausstattung wie Ergotherapeuten, Psychologen, Sozialarbeitern aus, das kostet alles Geld.« Und schließlich: »Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Inklusion. Was passiert denn mit unseren Absolventen nach der Schule, eine berufliche Eingliederung findet doch nicht statt?«

Im zuständigen Schulministerium in Düsseldorf versucht man die UN-Resolution nach und nach umzusetzen. Im September vergangenen Jahres wurde die Einrichtung von 188 Lehrerstellen für integratives Lernen beschlossen. Zudem sollen die Ausbildungsrichtlinien für zukünftige Lehrer den neuen Erfordernissen angepasst werden. Auch Fortbildungen sind geplant. Wie viel Zeit dieser Umsetzungsprozess in Anspruch nehmen wird, ist allerdings noch offen. Experten rechnen mit bis zu zehn Jahren. Schulleiter Klaus Zerwes geht sogar von 20 bis 25 Jahren aus.

Ängste bestehen bei Lehrern im Regelschulsystem. Der Grund ist die befürchtete schlechte personelle Ausstattung und die zu großen Klassen. Die Frage ist auch, welchen Grad einer Einschränkung haben die Kinder. Sind es körperlich und geistig benachteiligte Schüler oder sind es erziehungsschwierige Kinder? Letztere will an Regelschulen kaum jemand haben. Offen wollen dies viele Lehrer allerdings nicht sagen. »Wir können bei den Klassengrößen nicht auch noch auffällige Kinder unterrichten, auch wenn wir stundenweise von Sonderschulpädagogen unterstützt werden«, erklärt eine Lehrerin aus Essen, die aber aus Angst vor Konsequenzen nicht genannt werden will. Diese Aussage ist exemplarisch. Den vom Schulministerium gewünschten Schulterschluss aller Lehrer gibt es offensichtlich nicht, eine Verzögerung bei der Umsetzung der Konvention ist damit vorhersehbar. Ähnliches gab es schon einmal – bei der Umsetzung der Offenen Ganztagsschulen. Da beteiligten sich die Lehrer auch sehr zögerlich am gemeinsamen Aufbau neuer Strukturen in den Schulen. Die Zusammenarbeit mit externen Kräften aus der Jugendhilfe, die in den Ganztagsschulen arbeiten, zog sich lange hin. Ute Kumar kann dabei die Kritik der Grundschullehrer durchaus verstehen. »Die Kollegen werden mit Arbeit überfrachtet. Die Kinder müssen individuell gefördert werden. Ein multiprofessionelles Team aus Lehrern, Sonderpädagogen, Sozialarbeitern, Psychologen und Mitarbeitern der Jugendhilfe muss einbezogen werden«, fordert Kumar. »Man kann nicht einfach den Schalter umlegen«, gibt die NRW-Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Dorothea Schäfer, zu Bedenken. Die Stellung der Sonderpädagogen müsse klar definiert sein. »Die Kollegen können nicht nur in beratender Funktion an den Schulen tätig sein.«

In Rheinberg, einer kleinen Kommune am Niederrhein, stellt sich die Schulverwaltung bereits auf die neue Situation ein. Der dortige Bürgermeister Hans-Theo Mennicken treibt die Gründung einer Gemeinschaftsschule voran. Ab dem Schuljahr 2011/2012 sollen hier alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden – egal, ob sie behindert oder nichtbehindert sind. Auch bei den Kirchen setzten sich die Verantwortlichen mit dem Thema Inklusion auseinander. So plant der Kirchenkreis Essen die Gründung einer privaten Ersatzschule. Dort sollen ab dem 5. Schuljahr behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Alle Schulabschlüsse einschließlich des Abiturs nach zwölf oder auch 13 Jahren sollen möglich sein. Eigens dafür hatten bei einer Umfrage unter 6000 Eltern von Grundschulkindern rund 53 Prozent die Anmeldung ihres Kindes an einer solchen Schule zugesichert, weitere 40 Prozent hielten sich mit einem »vielleicht« die Schulwahl noch offen. Insgesamt haben jedoch 96 Prozent das pädagogische Konzept als richtig empfunden.

Selbst im Kulturbereich ist Inklusion inzwischen ein Thema. So läuft beim Klavierfestival Ruhr im Rahmen seines Education-Programms ein Projekt in Duisburg mit Förderschülern der Buchholzer Waldschule und Gymnasiasten des Elly-Heuss-Knapp-Gymnasiums. Unter dem Titel »Klangfarben« erarbeiten sich Schüler beider Schulformen musikalisch und tänzerisch Musik des Komponisten Claude Debussys. Dabei überraschen den Leiter des Projekts, Tobias Bleek, die Leistungen der Kinder der Förderschulen. »Die Kinder sind unheimlich stark und erfinderisch und es ist eine Bereicherung zu sehen, welche Möglichkeiten Musik hier bietet.«

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