Atombefürworter in Lateinamerika in der Defensive

Brasilien überprüft seine Neubaupläne, Chiles Einstieg in die Nuklearenergie ist fraglich, Venezuela steigt vor Einstieg aus

  • Harald Neuber
  • Lesedauer: 3 Min.
Atomkraftwerke erfreuten sich südlich der USA zuletzt größerer Beliebtheit. Die Katastrophe von Japan schafft nun ein neues Gefahrenbewusstsein.

Auf den ersten Blick hält sich der Trend in Grenzen: Gerade einmal sechs aktive Atomkraftwerke teilen sich Argentinien, Brasilien und Mexiko nach Angaben der World Nuclear Association. Doch vor allem die Regierung in Brasilía setzt auf einen massiven Ausbau der Versorgung mit Atomstrom. Acht Kraftwerke sollen dort in absehbarer Zeit errichtet werden, Vertreter der zuständigen Behörden brachten vor wenigen Wochen sogar die Gesamtzahl von 50 AKW ins Gespräch. Obgleich in Venezuela bislang keine Atomkraftwerke bestehen, pochte auch der dortige Staatschef Hugo Chávez angesichts von Stromengpässen im vergangenen Sommer auf »unser Recht, die Atomenergie zu friedlichen Zwecken zu nutzen«. Nun kam von ihm die Absage. Während eines Besuches chinesischer Unternehmer bezeichnete Chávez die Atomtechnik als »extrem riskant und gefährlich für die Welt«. Er reagierte damit auch auf Befürchtungen an der Basis seiner Partei PSUV.

Während die Tagespresse in den drei Atomstaaten zu Beginn dieser Woche erste kritische Fragen aufwarf, bemühten sich die Vertreter der verantwortlichen Behörden um Schadensbegrenzung. Die brasilianische Atomenergiebehörde Eletronuclear veröffentlichte auf ihrer Internetseite eine Erklärung, nach der die 1982 und 2000 in Betrieb genommenen Meiler Angra I und II seit dem Jahr 2002 über ein Erdbebenwarnsystem verfügen. Zudem sei das stärkste Beben in der südöstlichen Region im Jahr 2008 mit einem Wert von 5,2 auf der Richterskala gemessen worden.

Ähnliche Argumente waren aus den übrigen lateinamerikanischen AKW-Staaten zu hören. Gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP verwies der Vorsitzende der argentinischen Atomenergiebehörde, Rubén Navarro, auf die »fundamentalen« Bauunterschiede der eigenen Kraftwerke. Deren Reaktoren hätten schließlich eigene Kühlkreisläufe, so dass eine kritische Überhitzung wie in Japan vermieden werden könne. In Mexiko beschwichtigte der Kernphysiker Epifanio Ruiz von der Universität UNAM: Die Reaktoren in Laguna Verde – knapp 500 Kilometer von der Millionenmetropole Mexiko-Stadt entfernt – würden schließlich auch bei den regelmäßig auftretenden Wirbelstürmen abgeschaltet. Die beiden Reaktoren des Komplexes Laguna Verde verfügten über neueste Sicherheitstechnik, so Ruiz.

Dennoch mehren sich nicht nur in den Medien und bei Umweltorganisationen Lateinamerikas die kritischen Stimmen. Angesichts der Katastrophe in Japan sei jedes Land aufgefordert, die Rolle der Kernenergie in den nationalen Versorgungsplänen zu überprüfen, sagte Brasiliens Senatspräsident José Sarney zu Wochenbeginn. Man müsse »einen Moment innehalten« und über die Atomenergie nachdenken, fügte der hochrangige Politiker an.

Diese Reflexion wird nun vor allem für die Regierung Chiles notwendig. Angesichts von Energieengpässen hatte die Staatsführung unter Präsident Sebastián Piñera zuletzt den Bau von Kernkraftwerken angekündigt. Am heutigen Freitag soll – zwei Tage vor einem Besuch des US-Präsidenten Barack Obama – ein Atomabkommen mit Washington unterzeichnet werden. Doch gerade Chile ist in hohem Maße erdbebengefährdet: Das Land liegt an der Schnittstelle zwischen der tektonischen Nazka-Platte und der Südamerikanischen Platte. In Jahr 1960 wurde in Chile mit einem Wert von 9,5 auf der Richterskala gar das stärkste jemals gemessene Erdbeben registriert – das in Japan hatte eine Stärke von 9,0. Die Leiterin der Umweltschutzstiftung Terram, Flavia Liberona, sieht sich in ihrer Meinung bestätigt: »Chile ist wegen seiner seismologischen und geologischen Charakteristika nicht für Atomkraft geeignet – vor allem nicht mehr nach dem Geschehen in Japan«. Auch über die beiden bestehenden Forschungsreaktoren »Lo Aguirre« und »La Reina« seien »klarere Informationen« vonnöten, so Liberona weiter.

Die Abwägung zwischen den Gefahren und dem realen Nutzen der Atomenergie dürfte die Debatte in dem wirtschaftlich aufstrebenden Lateinamerika anheizen. Nach Angaben des Onlineportals enLatino decken die AKW gerade einmal zwei Prozent des gesamten Energiebedarfes südlich der USA. Die Nachrichtenseite kommt zu dem Schluss: »Atomenergie ist keine lateinamerikanische Angelegenheit«. Nach Japan wird dies wohl auch so bleiben.

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