Früher verbrannt, heute verheizt

Eine Hebamme beklagt den Niedergang ihres Berufsstandes

  • Katharina Lindner
  • Lesedauer: 7 Min.
Kein Anschluss mehr unter dieser Nummer für Gebärende
Kein Anschluss mehr unter dieser Nummer für Gebärende

Wir bieten keine Geburtshilfe mehr an«, ist seit Januar 2011 auf der Website der Hebamme Anna Thiele (35) zu lesen. Eine Hebamme ohne Geburtshilfe – ist das nicht merkwürdig? Vielleicht, meint Anna, die seit sieben Jahren in Niedersachsen tätig ist, aber sie hat keine Wahl: Die Haftpflichtversicherung ist zu teuer.

Im Sommer 2010 waren Stimmen von Hebammen, die zunehmend unter ihrer prekären Arbeits- und Einkommenssituation leiden, laut geworden. Es hatte Proteste gegeben, die ein breites Medienecho fanden. Doch die schwierige Situation der Hebammen blieb weiter in der Schwebe, der geforderte Runde Tisch zwischen Gesundheits- und Familienministerium, Krankenkassen und Hebammenverbänden fand nicht statt. Ende 2010 gingen in Berlin erneut Hebammen auf die Straße, um gegen die unzumutbaren Entlohnungsbedingungen zu demonstrieren. Die Regierung stellte sich auf beiden Ohren taub. Dabei wird die Situation zunehmend unerträglich: Massiv angestiegene Versicherungsprämien bei minimalen Gebührenerhöhungen, das Einkommen stagniert seit Jahren, während Lebenshaltungskosten und Kosten für die Tätigkeit ständig zunehmen. Viele Kolleginnen geben auf. Damit gerät auch die flächendeckende Versorgung der Schwangeren vielerorts in Gefahr. Mehr Termine, weniger Zeit für jede Frau und ein lächerliches Einkommen – das ist die Zukunft der Hebammen. Die Hebammen sind in Existenznot. Und ihnen wird der Eindruck vermittelt, ihre Arbeit sei nichts wert. Einzelschicksale sind mit diesen Fragen verbunden, doch scheint auch der ganze Berufsstand in Frage gestellt: Werden die Hebammen, weil sie durch unzumutbare Arbeitsbedingungen aus ihrem Bereich verdrängt werden, aussterben? Wird diese Situation bewusst aufrechterhalten, um die Hebammen aus ihrem Tätigkeitsfeld hinauszudrängen, damit sich die ein oder andere privatisierte Klinik ein weiteres Einnahmefeld erschließen kann? Und wo ist die Stimme der politischen Entscheidungsträger? Wo bleibt Minister Rösler mit der Einlösung des Versprechens, man würde eine für alle tragbare Lösung finden? Viele Hoffnungen haben sich auf dieses Versprechen gerichtet. Die Regierung hat sie nicht erfüllt.

Nun ist auch Anna nach Jahren des Kampfes am Ende. Sie hat bereits geplante Geburten wieder absagen müssen. Damit »verrät« sie ungewollt ihre Berufsehre, sind doch Entbindungen der Mittelpunkt ihres Berufes. Doch als Mutter von drei Kindern hat sie keine Wahl. Die Familie braucht ein sicheres und regelmäßiges Einkommen, das zum Überleben reicht. Anna bringt dieses trotz gestiegenen Arbeitspensums längst nicht mehr mit nach Hause. Manche Monate zahlt sie sogar drauf.

Ihr Arbeitstag ist lang. Sie bereitet den Kindern morgens das Frühstück zu und hat bis mittags zumeist vier Hausbesuche hinter sich. Danach folgen kochen, essen, Kinder, Hausaufgaben, Haushalt, Büro- und Organisationstätigkeiten. Abends wieder Hausbesuche, an vier Tagen pro Woche zudem Geburtsvorbereitungs- oder Rückbildungskurse. Wenn sie Glück hat, ist sie etwa um zehn zu Hause. Immer und jederzeit ist sie in Rufbereitschaft, auch nachts. Im Durchschnitt erreichen sie 150 Telefonate oder SMS im Monat. Privatleben? Fehlanzeige. Die Bitten der Frauen bringen sie oft in Not: »Mal schnell etwas Benötigtes vorbeizubringen, kann ich nicht als Wochenbettbesuch abrechnen, ich lege also Zeit und Geld drauf. Aber die Frauen haben es nicht leicht in einer Lebenssituation, in der sich alles verändert. Auch das Elternsein muss man lernen. Die Familien brauchen Kompetenz, Verständnis und Zeit.« Zeit, die ihr eigentlich fehlt. Anna balanciert auf dem Grat zwischen sensibler Geduld und einer stets tickenden Uhr, immer bedroht vom finanziellen Aus. »Und der Lohn?« resümiert sie nüchtern, »ist nach Abzug der Kosten ein Taschengeld.« Der Lohn der Putzfrau, die ihre Praxis reinigt, ist höher als ihr eigener. Ihr Ehemann bleibt trotz berufstätiger Frau weitgehend der Alleinverdiener. »Ich könnte mich und die Kinder nicht ernähren«, weiß Anna, »und das, obwohl ich so viel arbeite, dass die Kinder oft zu kurz kommen.«

Für den Luxus, ihrem Beruf nachzugehen, zahlt Anna einen hohen Preis. Wie lange das noch möglich ist, weiß sie nicht. Es war schon ein schwerer Schritt, die Geburtenbetreuung aus ihrem Leistungskatalog zu streichen und nur noch Nachsorgen oder Vorbereitungskurse anzubieten. Anna hätte die Versicherungsprämie auch den betreuten Frauen als 350-Euro-Bereitschaftspauschale auferlegen können, wie es viele Kolleginnen tun. »Dann würde die Hausgeburt ein Gut, das den Besserverdienenden vorbehalten bleibt. Das kann auch keine Lösung sein!« Dabei ist das nur der Anfang vom Ende. Im schlimmsten Fall wird Anna sich zeitnah einen anderen Job suchen müssen, »irgendwas, was man als Ungelernte machen kann. Vielleicht in einer Fabrik am Fließband?«

Dieses Fließband-Prinzip steht auch den schwangeren Frauen bevor, wenn Wirtschaft, Krankenkassen und Politik die Hebammen weiter in die Enge drängen. Sie sind es, die die Spielregeln auf dem Einnahmen-Kosten-Feld festschreiben, die Hebammen haben keine Chance. Von Zusammenarbeit kann keine Rede sein, denn der Druck erhöht auch den Konkurrenzkampf: Krankenhäuser buhlen um Frauen, manche Gynäkologen verweigern die Zusammenarbeit, und die Kolleginnen verteidigen den eigenen Wirkungskreis zuweilen bitter. Bei der medizinischen Lobby stehen die Hebammen vor verschlossenen Türen: Eine Krankenhausgeburt, gar ein Kaiserschnitt, sind leicht verdientes Geld. So bleiben die Hebammen Einzelkämpferinnen, die zunehmend Zeit und Geld in Werbung investieren müssen. Beides fehlt ihnen. Auch Sicherheit gibt es immer weniger. Stattdessen werden mehr und mehr Hebammen in die riskante Selbstständigkeit mit all ihren Nachteilen gedrängt. Die Zahl der in Kliniken angestellten Hebammen sinkt rapide. Die wenigen, die noch dieses Glück haben, müssen dennoch die Versicherungsprämien oft selbst zahlen, weil die Kliniken sich trotz Arbeitsvertrag aus der Haftung herausdrehen.

Einst war das Metier der Geburtshilfe das der sogenannten »Weisen Frauen«, die schon vor 40 000 Jahren ihren Schicksalsgenossinnen als heilkundige Könnerinnen zur Seite standen. Mit Technisierung, Fortschritt und Verwissenschaftlichung konnte sich im Lauf der letzten Jahrhunderte die Hebammenkunst immer weniger von der Heilkunst studierter Mediziner abgrenzen. Obgleich die Autonomie per Gesetz – es besteht für Ärzte die Hinzuziehungspflicht einer Hebamme unter der Geburt, nicht aber umgekehrt – nach wie vor zugestanden wird, ist die Berufstätigkeit kaum zu realisieren: »Sie ist unvereinbar mit der Familie«, beklagt Anna, »und sie treibt mich ökonomisch in den Ruin. Mein Tun verhilft der Gesellschaft zu mehr Gesundheit, Menschlichkeit und Wärme. Doch die miese Bezahlung und die hohen Hürden beweisen, dass es Politik und Gesellschaft an Anerkennung meiner Arbeit gegenüber fehlt. Im Mittelalter wurden Frauen unseres Berufsstandes mit dem Tode bedroht – heute bedroht sie die ständig lauernde Existenzangst.«

Die Zahlen erschrecken: So gehen bei einer Kollegin, die im Belegsystem an einer Klink arbeitet, im Durchschnitt allein die ersten 15 Geburten im Jahr für die Versicherung drauf. »Erst mit dem 16. Kind, dem auf die Welt verholfen wird, kann damit begonnen werden, die eigenen Fixkosten abzudecken«, erklärt Anna. Sie selbst hat es ebenso schwer: »Falls während einer Geburt etwas Unvorhergesehenes passiert, liegt das Risiko allein auf meinen Schultern. Wenn eine Geburt nicht wie geplant zu Hause stattfindet, weil die Frau abspringt oder medizinische Gründe es verhindern, bleibe ich auf der Haftpflicht sitzen. Wird eine Geburt nicht zu Hause beendet, verdiene ich trotz Aufwand 250 Euro weniger. Dabei sind die 548,80 Euro, die ich pro Geburt bekomme, eh schon nicht kostendeckend.« Denn zur Haftpflicht kommen Beiträge zur Rentenversicherung und Berufsgenossenschaft. Schon ohne die Unterhaltskosten der Praxis ist die Belastung immens. Der Versicherungsjahresbeitrag für eine freiberufliche Hebamme mit Geburtshilfe beträgt 3689 Euro, im Jahr 2002 waren es noch 453,85 Euro. »Der Beitrag hat sich in den letzten zehn Jahren verachtfacht, bei schlechterem Versicherungsumfang und niedrigeren Deckungssummen. Begründet wird dieser Anstieg, wie der DHV (Interessenverband der Hebammen) im März 2010 mitteilte, mit höheren Gesundheits- und Pflegekosten sowie der Zunahme der Regresse und der Schmerzensgeldhöhen«, empört sich Anna, »aber das ist doch Geldschneiderei auf unsere Kosten. Denn die Schadensfälle sind nicht in einem Ausmaß angestiegen, das diese astronomischen Prämiensteigerungen rechtfertigen würde. Außerdem haben beispielsweise die Wochenbettschäden tatsächlich erheblich zugenommen, der Beitrag von 315,35 Euro für eine freiberufliche Hebamme ohne Geburtshilfe ist jedoch seit Jahren stabil.« Anna ist sauer: »Wir sollen wohl alles machen, außer der vergoldeten Geburtshilfe! Das riecht nach Profitmaximierung der Versicherungen, die sich, unterstützt von schwarzgelber Ignoranzpolitik, an den ausgequetschten Hebammen bereichern.«

Der Bund Deutscher Hebammen hat immer wieder auf die Not der Hebammen aufmerksam gemacht, die Forderungen wurden klar formuliert: »Wir wollen eine alternative Finanzierung der Personenschäden in der Geburtshilfe«, erklärt Anna. »Außerdem eine klare Zuordnung der Zuständigkeiten, denn derzeit werden die Probleme zwischen den Ministerien hin- und hergeschoben. Und wir fordern eine angemessene Vergütung. Unsere Tätigkeit wirkt präventiv und spart auf Jahrzehnte Kosten«, wiederholt sie sinngemäß die Aussage der Präsidentin des DHV, Martina Klenk. »Unsere Arbeit ist wertvoll und wichtig. Zeigt uns endlich«, fordert sie Regierung, Krankenkassen und Gesellschaft auf, »dass wir euch auch wertvoll und wichtig sind.« Für Anna selbst wird es dann vermutlich zu spät sein.

Geburten betreuen – nicht mehr Anna Thieles Sache
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