Touristenalarm im Berliner Wrangelkiez

Kiezbewohner sehen sich durch hohe Besucherzahl und steigende Mieten bedroht

  • Sonja Vogel
  • Lesedauer: 4 Min.
Seit Jahren nehmen die Besucherzahlen in Berlin-Kreuzberg zu. Unter dem Titel »Hilfe, die Touris kommen« hatten die Grünen bereits eine Gesprächsrunde initiiert. Nun engagieren sich Bewohner gegen steigende Mieten.
Touristen zu Tisch im Kreuzberger Wrangelkiez
Touristen zu Tisch im Kreuzberger Wrangelkiez

»Die kommen, um in die Hauseingänge zu pinkeln!«, echauffierte sich eine Anwohnerin. »Bald sieht es hier aus wie in Frankfurt!« Turbulent ging es am Montag auf einem von der Stadtteil-Initiative Wrangelkiez organisierten offenen Gespräch im Kreuzberger Musik-Club Lido zu. Rund 250 Interessierte hatten sich ins Zentrum des Geschehens begeben, um über steigende Mieten und Verdrängung zu sprechen. Auf dem Podium saßen Vertreter von Bezirk, Quartiersmanagement und Anwohner.

In der Cuvry-/Ecke Schlesische Straße liegt das Lido mitten im Wrangelkiez. Im Sommer reicht die Warteschlange der Clubgänger oft weit um die Hausecke. Mehrere hundert Menschen drängen sich dann trinkend und rauchend auf dem Gehweg. Viele von ihnen sind Touristen, denn der Wrangelkiez ist ein internationaler Ausgehtipp.

Die touristische Erschließung des Quartiers trieb allerdings die Wenigsten zur Diskussion. Lutz Leichsenring, Vertreter der Cubbetreiber, hatte es trotzdem schwer. »Wir erleben eine Kommerzialisierung à la Ballermann«, hieß es. Einige Alteingesessene sahen die Clubs, die auch wochentags Tausende anziehen, als Hauptverantwortliche für den Wandel im Kiez. »Vielleicht sind die Clubs Opfer des eigenen Erfolgs«, räumte Leichsenring ein. »Aber wir sind genauso von Verdrängung betroffen.«

Verdrängung war das Hauptthema der Veranstaltung. Der Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg und langjährige Kiezbewohner Franz Schulz (Grüne) blickte zurück. Vor 25 Jahren habe er auf der Schlesischen Straße noch Fußball gespielt, die Ladengeschäfte seien damals zugemauert gewesen. Und es ging weiter bergab. »In den 1990er Jahren war der Wrangelkiez ohne Zukunft«, erinnerte sich Schulz. Und nun? Zwischen dem Mobiliar von Fastfood-Buden und Cafés kann man sich nur schwer einen Weg durch den Kiez bahnen. Die neue Infrastruktur interessiert neben potenziellen Mietern auch Investoren für die maroden Altbauten. »Wir beobachten eine sichtbare Veränderung der Bevölkerungsstruktur«, sagte Kerstin Jahnke vom Quartiersmangament. Dem Zuzug gut ausgebildeter junger Menschen stünde die Abwanderung Alteingesessener, vor allem türkisch und arabisch stämmiger Kiezbewohner, gegenüber. Der Wrangelkiez brummt – trotzdem wohnen dort mehr arme Menschen als im Berliner Schnitt. Rund die Hälfte aller Kinder bezieht staatliche Transferleistungen. Ein junger Anwohner fürchtete, Berlin könne sich wie Paris oder London entwickeln. »In der Innenstadt die posh people und außerhalb des S-Bahn-Rings die Assis«, provozierte er und erhielt viel Applaus.

Schon jetzt liegen die meisten Mieten über den anerkannten Richtwerten, so dass etliche Transferbezieher aufgefordert wurden, sich eine günstigere Wohnung zu suchen. Im Wrangelkiez sind sie chancenlos. »Die Angst vor Verdrängung nimmt zu«, sagte Kerstin Jahnke. Ein junger Mann berichtete von den Mieterhöhungen für 50 Quadratmeter mit Ofenheizung – von 250 auf fast 600 Euro in wenigen Jahren. Viele haben den Wegzug der Nachbarn erlebt. Nacheinander treten sie an das Saalmikrofon und erzählen ihre Geschichten von Leerstand und Wohnungsnot. Von einem Selbstmordversuch wegen nicht übernommener Heizkosten. Von hoher Fluktuation, die die Preise bei Neuvermietungen explodieren lässt. Von Miethaien, die nach dem Ankauf Gebäude verkommen lassen und vom Ausverkauf ehemals städtischer Häuser an Hedgefonds.

»Wir haben nun mal keine teilungsbedingte Randlage mehr, sondern eine gute Infrastruktur«, erklärte etwas salopp Wirtschaftsstadtrat Peter Beckers (SPD). Das verärgerte die Anwesenden. »Wo sollen wir denn hinziehen«, fragte eine Anwohnerin. »Nach Lichtenberg? Nach Marzahn?« Die Antwort blieb der Stadtrat schuldig.

Tatsächlich ist Wohnungsbaupolitik Sache des Senats und die Bezirksvertreter waren darum kaum die richtigen Ansprechpartner. Über Jahre wurden Konzepte wie der Mileuschutz ausgehöhlt, der die Sozialstruktur auch über Hauseigentümerwechsel hinaus erhalten soll. Erst wenn das Land die angespannte Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt anerkenne, könnten Regularien wie das vor Jahren außer Kraft gesetzte Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum wirken. Berlin jedoch sperre sich, reichte Bezirksbürgermeister Schulz die Verantwortung weiter. »Aber der Senat kommt trotz Einladung nicht und hier werden irgendwelche Verordnungen versprochen«, zeigte Anwohnervertreterin Heba Choukri die aussichtslose Lage der Bewohner auf. »Bis sich was tut, haben wir unsere Wohnungen verloren.«

Die Podiumsteilnehmer verabredeten einen Runden Tisch. Dass dann dort die für die Misere Verantwortlichen Platz nehmen, ist unwahrscheinlich.

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