Einblicke in die »Sachablage 306/80«

Wie das MfS die Westberliner Polizei auszuspähen versuchte – ein Dossier der FU

  • Rainer Funke
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Schnitt 10 bis 20 Informanten arbeiteten jährlich zwischen 1950 und 1972 für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in der Westberliner Polizei. Dabei war der DDR-Geheimdienst an der gesamten Bandbreite des Alltags in den 116 Revieren und 12 Inspektionen sowie dem Drumherum interessiert – Fotos von und aus Dienststellen, an Stammkneipen von Polizisten, wo Alkohol ihnen womöglich die Zunge lockerte, Adressen, interne Dienstabläufe, Grundrisse von Polizeistationen, Strukturen, Waffendepots, Telefonnummern, Fahrzeugkennzeichen, Details über Führungskräfte und ihr Privatleben, Fahndungshintergründe, Ausrüstung, Bewaffnung, technische Ausstattung.

Zu den Informanten zählten neben Polizisten auch Hausfrauen, Rentner, Kleinkriminelle, Taxifahrer, Kaufleute, Journalisten »und sogar Terroristen«. Diese Ansicht vertreten Mitarbeiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin (FU) nach Analyse von 180 einst beim MfS archivierten Aktenbänden namens »Allgemeine Sachablage 306/80«. Das jetzt vorliegende 166-seitige Dossier hatte Berlins Polizeipräsident Dieter Glietsch im Juli 2009 bei der FU bestellt, nachdem drei Monate zuvor bekannt geworden war, dass der Kriminaloberkommissar des Westberliner Staatsschutzes Karl-Heinz Kurras Mitarbeiter des MfS gewesen war. Dieser Mann hatte 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschossen. Der Auftrag an die FU wurde inzwischen auf die Jahre 1972 bis 1990 erweitert – Ergebnisse erwartet man in einem Jahr.

Die genannten Informationen habe das MfS offenkundig zusammengestellt, um »verwundbare Stellen zu finden« und damit auf den Fall X vorbereitet zu sein. Man habe offenbar bis in die späten 80er Jahre mit einer militärischen Auseinandersetzung gerechnet, denkt Prof. Klaus Schröder, der die Forschungsgruppe leitet. Es sei ein Wust von Details zusammengetragen worden, aus denen man keinerlei relevante Schlüsse mehr hätte ziehen können. Die Polizeien in beiden Teilen der Stadt seien militarisiert gewesen, die im Osten allerdings deutlich höher, so Schröder. An der Ausforschung der Westberliner Polizei habe sich auch die MfS-Hauptverwaltung Aufklärung und die Militärabwehr beteiligt. Die Akten der NVA seien allerdings unter Minister Rainer Eppelmann vernichtet worden, meint Ko-Projektleiter Jochen Staadt. Gleichwohl existierten bei der Stasi-Unterlagenbehörde Kopien.

Einflüsse auf Willensbildung und Entscheidungsprozesse in der Westberliner Polizeibehörde seien dem MfS nicht gelungen, konstatiert das Dossier. Allerdings habe man versucht, mit gewonnenen Informationen Desinformationskampagnen zu unterfüttern, um die Polizisten zu verunsichern. Eine wichtige Rolle soll dabei die »Demokratische Polizei« gespielt haben. Das Blättchen sei als Zeitung kritischer westlicher Gewerkschafter verbreitet, in Wirklichkeit aber vom MfS editiert worden.

Kurras habe den Staatsschutzbereich, den er überschauen konnte, für den DDR-Geheimdienst »zu einem offenen Buch« gemacht. Er sei für das MfS ein Glücksfall und ein Ausnahmeerfolg zugleich gewesen. Laut FU-Projekt konnten die Decknamen von 20 Informanten enttarnt werden, bei 19 Quellen der HVA und weiteren 40 Quellen anderer MfS-Abteilungen in den Westberliner Polizeigremien könne man nicht auf ihre Urheber schließen. In die Leitungsebene, so die Analyse, habe das MfS nicht eindringen können – ein Aufstieg in der Westberliner Polizei sei immer mit Sicherheitsüberprüfungen einhergegangen, so dass IM-Polizisten aufgeflogen wären.

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