Die schönste Zeit

»Gedichte für einen Frühlingstag«

  • Kai Agthe
  • Lesedauer: 2 Min.

Ein lyrischer Frühlingsstrauß. Es ist ein schönes Bukett geworden, das Gudrun Bull uns mit ihren »Gedichten für einen Frühlingstag« gebunden hat. Die Herausgeberin hat mit viel Übersicht lyrische Texte rund weniger bekannter Dichtern ausgewählt und diese gut nachvollziehbar in vier thematische Kapitel (Vorfrühling, Frühling, Ostern und Mai) unterteilt. An den Gedichten, die hier Eingang gefunden haben, lassen sich auch die repräsentativen metrischen und Reimformen des letzten 250 Jahre studieren.

Einer der frühesten Autoren ist Barthold Hinrich Brockes, dessen Natur-Erleben noch religiös motiviert war, endet doch sein Gedicht »Kirschblüte bei der Nacht« mit den Versen: »Die größte Schönheit dieser Erden / Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.« Das ist eine Generation später vorbei. Denn mit der Aufklärung wird die Natur ästhetisch autonom. Wenn Brockes vertreten ist, fällt umso mehr auf, dass der für die Dichtung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutsame Klopstock fehlt. »Die Frühlingsfeier« hätte sich hier, und sei es gekürzt, gut eingefügt. Aber natürlich ist der Herausgeberin bewusst, dass Auslassungen unumgänglich sind. In wunderbar archaischer Diktion betont sie im Nachwort: »Aus der Überfülle auszuwählen bedeutet Beschwer.«

Zu den berühmten Frühlingsgedichten, die auch hier nicht fehlen dürfen, zählen Goethes »Osterspaziergang« aus »Faust I« und Eduard Mörike »Er ists«. Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein; dort flattert das »blaue Band« im Wind. Die Herausgeberin ruft aber auch Lyriker in Erinnerung, die mehr oder minder vergessen sind: So etwa Martin Greiff und Hanns von Gumppenberg, Johann Martin Miller und Paula Ludwig. August Hoffmann von Fallersleben, der Dichter des Liedes der Deutschen, war nicht nur ein eminent politischer Autor, sondern, wie drei lyrische Texte zeigen, auch Verfasser von Naturgedichten. Mit Georg Heym, Georg Trakl und Else Lasker-Schüler ist auch die expressionistische Dichtung gut vertreten.

Als übergreifendes Motto für diese Sammlung könnten die ersten beiden Verse des Gedichts »Frühlingsgedanken« zitiert werden, das der Barockdichter Simon Dach schrieb, der lange Zeit auch als Verfasser des von Friedrich Silcher vertonten »Ännchen von Tharau« galt: »Es ist, gewünschter Frühling, wahr, / Dein Reichtum krönt das ganze Jahr.«

Gedichte für einen Frühlingstag. Hrsg. von Gudrun Bull. Deutscher Taschenbuch Verlag. 158 S., brosch., 6,90 €.

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