Gegen Sparkurs und Hungersnot
Vorläufer des arabischen Frühlings: die äthiopischen Studentenrevolte
Bei Studentenbewegungen denken die meisten Menschen in erster Linie an die Ereignisse des Jahres 1968 in Europa. Doch auch anderswo in der Welt demonstrierte die Jugend ihre Unzufriedenheit mit den Verhältnissen, so in Äthiopien. Die dortige Studentenbewegung der 1960/70er Jahre gilt als Wegbereiter der äthiopischen Revolution von 1974. Nur ist dies außerhalb Äthiopiens kaum bekannt.
Angesichts der aktuellen Ereignisse in Nordafrika kann aber gerade das Beispiel dieser Bewegung die möglichen Fallgruben einer revolutionären Dynamik veranschaulichen. Zugleich belegt sie, dass entschiedene Aktivisten auch vor der so genannten Facebook- oder Twitter-Generation in der Lage waren, Massen zu mobilisieren. Die Überbewertung des Internets in der heutigen Diskussion versperrt bisweilen den Blick über andere Medien des Protestes und die Beweggründe der Aktivisten. Die äthiopische Jugend der 1960er Jahre hatte, ähnlich wie die heutige Jugend in Nordafrika, politische und gesellschaftliche Reformen gefordert. Ihr Medium waren studentische Zeitungen. Diese trugen programmatische Titel wie »Struggle« (Kampf) oder »Challenge« (Herausforderung).
Noch zu Beginn der 1960er Jahre galten die Studenten als loyal gegenüber dem letzten Kaiser Äthiopiens, Haile Selassie. Im Laufe der 1960er Jahre änderte sich dies. Es kam zu einer zunehmenden Politisierung der Studenten. Die Doktrin des Marxismus-Leninismus erfreute sich wachsender Popularität und bildete fortan die Interpretationsgrundlage der studentischen Bewegung.
Ab Mitte der 1960er Jahre nahmen die Konfrontationen mit der Regierung zu. Die Studenten demonstrierten u. a. für eine Landreform, gegen den als zu stark empfundenen US-amerikanischen Einfluss in Äthiopien und für Solidarität mit den Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika. Zudem machten sie die Selbstbestimmung der verschiedenen ethnischen Gruppen des Landes zu einem zentralen Punkt ihrer Kritik.
Ende der 1960er Jahre spitzte sich die Lage weiter zu. Studentische Aktivisten warnten davor, ihre Universität in eine »Sorbonne« zu verwandeln. Die Anspielung auf die gewaltsamen Ausschreitungen an der Universität in der französischen Hauptstadt verdeutlicht den internationalen Bezug der Bewegung. Über geistige Verbindungen hinaus, existierten reale Bande mit dem Westen. Studentische Vereinigungen von Äthiopiern in Europa und Nordamerika können als Triebfedern eines Ideologietransfers betrachtet werden.
Wäre demnach der Aufbruch der äthiopischen Studenten einzig auf die Rezitation einschlägiger Literatur in den Kreisen der im Ausland Studierenden zurückzuführen? Oder sind die tatsächlichen Ursachen nicht eher in den damaligen Zuständen in Äthiopien zu finden?
Im heute souveränen Eritrea hatte sich in den 1960er Jahre eine Unabhängigkeitsbewegung formiert. Die in diesem Kontext agierende Guerillabewegung imponierte den Studenten. Sie wurden dadurch für die dem politischen System inhärente Diskriminierung bestimmter ethnischer Gruppen sensibilisiert. Dies alarmierte die Regierung in Addis Abeba im höchsten Maße, da auch die äthiopische Nation als solche in Frage gestellt schien. Die Regierung setzte auf Repression und ging nun verstärkt gewaltsam gegen die Studenten vor. Die Aktivisten erhofften sich ihrerseits, mit der Provokation von Gewalt eine Revolution herbeizuführen. Im Dezember 1969 eskalierte die Situation, es waren Tote und Verletzte zu beklagen. Die Hoffnungen auf eine Revolution mussten zunächst begraben werden. Die repressiven Maßnahmen der Regierung schwächten die Bewegung erheblich. Jedoch ließ sich die Idee eines Umsturzes weder durch Einschüchterung noch durch Festnahmen ersticken – im Gegenteil, weitere Teile der Bevölkerung wurden von ihr ergriffen.
Die Ölkrise des Jahres 1973 traf auch Äthiopien hart. Widerstand gegen den Sparkurs der Regierung verband sich mit der Wut über den Versuch, eine Hungersnot, die das Land weltweit in die Schlagzeilen brachte, zu vertuschen. Eine Meuterei in der Armee gab dem in Bedrängnis geratenen Regime den Rest. 1974 wurde die Regierung von Haile Selassie gestürzt. Die Studentenbewegung gilt als Wegbereiter dieser Revolution. Eine zivile Regierung konnte die Revolution jedoch nicht hervorbringen, die Macht übernahm das Militär.
Inwieweit wurden nun aber die Forderungen der jungen Äthiopier erfüllt?
Das von den Studenten eingeforderte Recht auf Selbstbestimmung für die ethnischen Gruppen hatte der Rechtfertigung des bewaffneten Kampfes gedient. Die Militärregierung wiederum bekämpfte alle »Befreiungsbewegungen« mit harter Hand. Ob die zahlreichen Opfer das hehre Ziel der Jugend rechtfertigten, ist fraglich.
Eine Landreform wurde zwar von der Militärregierung durchgeführt. Doch konzentrierte sie den Landbesitz in den Händen des Staates, die Bauern wurden nicht wie erhofft Eigentümer von Grund und Boden. Auch nach dem Sturz des Militärregimes (1991) durch eine Rebellenallianz, die sich aus der Studentenbewegung rekrutiert hatte, hat sich daran nichts geändert. Jegliches Land in Äthiopien ist Eigentum des Staates, die Bauern sind nur Pächter. Die Praxis der heutigen Regierung in Addis Abeba, riesige Areale, die der Größe mitteleuropäischer Staaten entsprechen, an globale Agrarriesen zu verpachten, muss kritisch gesehen werden. Sie wirft die Frage nach einem verantwortlichen Umgang mit den Ressourcen des Landes auf.
Die in Afrika gegenwärtig vorherrschenden Elitenkonzepte weisen in eine Ära zurück, in der außerhalb des »schwarzen Kontinents« gesteckte Prämissen, die dem Interesse des Westens oder auch Ostens dienten, zu Fehlentwicklungen führten. Mit Blick auf die aktuelle Situation in Nordafrika wird deutlich, dass als Antwort auf Korruption, Misswirtschaft und Ambitionen politischer Führer, auf Lebzeiten herrschen zu können, die revolutionäre Lösung noch lange nicht ausgedient hat. Könnte der revolutionäre Funke auch auf Äthiopien überspringen? In äthiopischen Internetforen wird dieser Tage mit Blick auf die Ereignisse in Nordafrika auf die Studenten der 1960/70er Jahre verwiesen. Mal wird ob des Ausgangs der damaligen Revolution zur Vorsicht gemahnt, mal mit Stolz auf das geistige Erbe der Bewegung verwiesen. Fest steht, dass ein ziviler Aufstand das Land angesichts seiner Heterogenität vor eine Zerreißprobe mit ungewissem Ausgang stellen würde.
Julian Tadesse arbeitet am Zentrum Moderner Orient in Berlin.
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