Regierung drückt sich um Lehren aus Tschernobyl
Opposition will Atomausstieg vorantreiben / Neue Studie dokumentiert schwerwiegende gesundheitliche Folgen des GAU von 1986
Die Oppositionsfraktionen verbanden in ihren Anträgen das Gedenken an Tschernobyl mit der Forderung nach einem baldigen Ausstieg aus der Atomkraft. Jürgen Trittin von Bündnis 90/Die Grünen kritisierte erneut die Verlängerung der Laufzeiten für die Atomkraftwerke und bezeichnete sie als »historische Fehlentscheidung«. Er rief den Bundestag zu einem »neuem Konsens« zum Verzicht auf Atomenergie auf. Die Grünen beantragten, die Atomkraftnutzung in Deutschland bis 2017 aufzugeben. Auch die SPD-Fraktion forderte, eine Energieversorgung ohne Atomkraft so schnell wie möglich zu erreichen. »Ganz ohne Not« habe die Bundesregierung den Konsens in der Bevölkerung für den Atomausstieg »aufgebrochen« und die Laufzeitverlängerung durchgesetzt, kritisierte Marco Bülow (SPD). Seine Fraktion beantragte, den endgültigen Atomausstieg in Deutschland noch in diesem Jahrzehnt zu ermöglichen.
Die Forderungen der Linksfraktion gingen weit darüber hinaus. Die LINKEN-Abgeordneten plädierten dafür, ein Verbot, Atomtechnologie für zivile und militärische Zwecke zu nutzen, in das Grundgesetz aufzunehmen. Weiterhin sollten alle deutschen Atomkraftwerke durch die Verabschiedung eines Atomausstiegsgesetzes unverzüglich stillgelegt werden. Auch ein Import- und Exportverbot für Atomtechnologie solle erlassen werden.
CDU/CSU und FDP wandten sich gegen endgültige Entscheidungen vor Ablauf des Moratoriums. Die CDU-Umweltpolitikerin Marie-Luise Dött kündigte »Gründlichkeit in der Analyse und Konsequenz im Handeln« an. Sie gab zu, dass aus den Ereignissen in Japan Konsequenzen gezogen werden müssten. An einem »Unterbietungswettlauf« wolle sich die Regierung aber nicht beteiligen und verzichte weiter auf die Festlegung eines Zeitpunktes für den Atomausstieg.
Kurz vor den offiziellen Gedenkfeiern für die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe veröffentlichten die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) und die Gesellschaft für Strahlenschutz am Freitag anlässlich ihrer internationalen Konferenz am Wochenende eine neue Studie zu den gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl. In dieser Folgeuntersuchung legten die Autoren besonderes Augenmerk auf die Nicht-Krebserkrankungen der Opfer. Bei den als »Liquidatoren« bezeichneten Aufräumarbeitern seien die Auswirkungen der Niedrigstrahlung nicht zu unterschätzen, machte IPPNW-Vorsitzende Angelika Claußen deutlich. Die Strahlung habe nicht nur Krebserkrankungen zufolge, sondern auch vorzeitige Alterung, Herz-Kreislaufprobleme und hirnorganische Schäden. »Bereits zehn Millisievert an dauerhafter Niedrigstrahlung kann Krebs und genetische Schäden erzeugen«, sagte Claußen.
Weiterhin stellten die Forscher fest, dass die meisten gesundheitlichen Folgen eines radioaktiven Unfalls erst nach vielen Jahren auftreten. Noch immer erkranken Kinder in der Umgebung von Tschernobyl gehäuft an Schilddrüsenkrebs oder erleiden Fehlbildungen durch Genschäden. Aber auch die »verlorenen Kinder«, die Tot- und Fehlgeburten, fanden Eingang in die Studie.
Der russische Biologe Alexej Jablokow legte zudem Berechnungen zu den Opferzahlen der 25-jährigen Geschichte der Tschernobyl-Katastrophe vor. Danach handele es sich nicht um ein paar Tausend, wie die WHO und die IAEA sie beziffern, sondern um mehr als eine Million Tote weltweit. Ähnliches komme seiner Ansicht nach nun auf die dicht besiedelte Umgebung des havarierten Atomkraftwerks Fukushima in Japan zu. Auch diese Entwicklungen sind heute und morgen Themen des IPPNW-Kongresses in Berlin.
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