40 Jahre – wie in der Bibel

EKD-Ratsvorsitzender Nikolaus Schneider über Kirche im Osten, Atomkraft und die LINKE

  • Lesedauer: 6 Min.
NIKOLAUS SCHNEIDER stammt aus einer kirchlich nicht gebundenen Arbeiterfamilie aus Duisburg-Rheinhausen, sein Vater war Hochofenmeister. Der heute 63-Jährige studierte Theologie und Volkswirtschaft in Göttingen, Wuppertal und Münster, wo er auch das Vikariat 1974-1976 absolvierte. Schneider erhielt 1998 für seinen Einsatz für Arbeitnehmer und Arbeitslose die Hans-Böckler-Medaille des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Seit 2003 ist er Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit dem überraschenden Rücktritt Margot Käßmanns vom EKD-Vorsitz Ende Februar 2010 hat Nikolaus Schneider dieses höchste Amt der Evangelischen Kirche in Deutschland inne. Mit ihm sprach THOMAS KLATT.

ND: Wie es scheint, sind plötzlich alle gegen Atomkraft. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich auf ihrer Synode allerdings wirklich schon 1987 gegen Kernenergie ausgesprochen. Wie ist das für Sie als Kirchenvertreter, immer schon recht gehabt zu haben?
Schneider: Angesichts der Ereignisse in Japan geht es nicht so sehr um Rechtgehabthaben oder nicht. Das ist eine fürchterliche Katastrophe. Zuerst muss man an die armen Menschen denken, die dreifach durch Erdbeben, Tsunami und GAU in Fukushima betroffen sind. Wir haben über Atomenergie in unserer Kirche immer schon heftig diskutiert. Wenn man auf unsere evangelische Mitgliedschaft schaut, da kommen durchaus auch Befürworter der Atomkraft vor, die in dem Bereich arbeiten. Man kann nicht sagen, dass innerhalb der Kirche ausschließlich eine Meinung herrscht. Aber wo es eine klare atomkritische Linie gibt, das ist bei den Synoden und bei den meisten Äußerungen der Kirchenleitungen.

Die letzte EKD-Synode hat den Ausstieg aus dem Ausstieg kritisch kommentiert. Ich hatte einen Antrittsbesuch bei der Kanzlerin, wo ich dieses Thema auch angesprochen habe. Wir sind natürlich völlig damit einverstanden, dass diese Debatte erneut ernsthaft geführt wird. Ich glaube den Ausstieg aus der Atomenergie aber erst, wenn Ergebnisse da sind.

Die RWE-Zentrale in Essen liegt in Ihrer rheinischen Heimatkirche. Gibt es kirchliche Gesprächsebenen mit der Atomlobby?
Mit RWE-Vertretern gab es Gespräche über den Sozialausschuss oder bei Akademietagungen. Mit dem Vorstand gibt es bisher keine Gespräche. Wenn RWE vor Gericht klagt und es heißt, Biblis A vom Netz zu nehmen bedeute einen Verlust von 750 000 Euro pro Tag, dann weiß man, welche Interessen da bestehen. Und Biblis A ist nicht das produktivste Werk, bei anderen sind da noch höhere Zahlen denkbar. Es gibt doch immer zwei Standardargumente: Das eine ist das Arbeitsplatzargument, das andere ist das Kostenargument. Natürlich braucht man eine kluge Konversion, denn die Atomindustrie zahlt gut, deutlich 20 Prozent über dem Tariflohn in der Metallarbeitsbranche. Da gingen im Falle der Stilllegung natürlich Arbeitsplätze verloren, aber in Dimensionen, die man über eine Konversion wird abfangen können. Ob diese Bezahlung dann zu halten sein wird, da bin ich skeptisch.

Und das Moratorium ist nur ein Wahlkampftrick? Nach den Landtagswahlen geht es wieder so atomfreundlich zu wie vor der Japan-Katastrophe?
Ich glaube, die Kanzlerin meint es ernst, wenn sie sagt, wir müssen den Begriff Restrisiko neu definieren. Es kommt sehr darauf an, inwieweit es den Japanern gelingt, die Havarie in Fukushima wirklich in den Griff zu bekommen. Das wird uns vermutlich noch Jahre beschäftigen, es werden unbewohnbare Gegenden bleiben. Es wird Krankheiten geben, Sterbefälle. Mein Eindruck ist, dass sich das allgemeine Klima für die Atomlobby nicht verbessern wird. Ich glaube, die deutsche Bevölkerung lässt sich nicht mehr mit dem Argument unter Druck setzen, ohne eigene AKWs müssen wir Atomstrom aus Frankreich kaufen. Erstens stimmt es nicht und zweitens bedeutet ein Pro-Atomkurs in anderen Ländern nicht, dass es bei uns auch so sein muss. Ich glaube, jetzt ist ein Kairos da: Es besteht die einmalige Chance, dass man nachhaltig etwas verändern kann, zumal sich die politischen Konstellationen verschieben.

Sie sprechen für rund 24 Millionen Evangelische in Deutschland. Was sollten diese vor allem tun?
Beten! Unterschätzen Sie die politische Bedeutung von Gebet und Verkündigung nicht. Dann sich informieren, sprachfähig, argumentationsfähig sein. Und: keinen Atomstrom benutzen. Das ist im Moment das Wichtigste: Alle sollten prüfen, wo sie Energie beziehen.

Kann es beim Antiatom- und Umweltengagement Allianzen zwischen Christen und Sozialisten geben? Bei der Idee einer sozial gerechteren Gesellschaft gibt es ähnliche Übereinstimmungen.
Es gibt so etwas wie eine Langzeitwirkung von Diskriminierung bis hin zu Denunzierungen von Christinnen und Christen in der DDR. Der christliche Glaube wurde als unwissenschaftlich dargestellt, als eine Art Märchen, als schädlich. Der politische Umschwung ist ganz wesentlich den evangelischen Kirchen zu verdanken, die auch als einzige Institution so etwas wie demokratische Verhaltensweisen eingeübt hatten. Ich habe den Eindruck, dass bei vielen aus dem Osten eine Haltung da ist: Der Marxismus ist uns kaputt gegangen, die alte realsozialistische Gesellschaft ist uns kaputt gegangen. Irgendwas muss doch richtig gewesen sein. Da wird dann häufig ein Atheismus oder ein gewisses Verächtlichmachen des christlichen Glaubens und der Kirchen als ein Notanker zur Wahrung der eigenen Identität betrieben. Die will man durch die gesellschaftlichen Umbrüche noch bewahren, was ich unter seelsorgerischen Gesichtspunkten sehr gut verstehen kann.

Aber sind das nicht längst überwundene Blockbildungen?
In der Sache kann man zusammenarbeiten, aber es fehlt mir bei der LINKEN immer noch eine klare Aussage zu 40 Jahren DDR-Verfolgung der Kirchen. Daran kommt die Partei nicht vorbei! Sie kann nicht sagen, wir sind jetzt eine andere Partei, nicht mehr die SED. Es gibt eine historische Kontinuität, zu der muss man sich verhalten. Das hat die LINKE bei vielen anderen Themen getan, nur in Bezug auf Christinnen und Christen nicht.

Gibt es denn keinen Dialog mit Humanisten, Freidenkern, Atheisten, Sozialisten?
Das ist ein Problem. Für ostdeutsche Christen sind gerade das die Bannerträger der sie verfolgenden Ideologie. Und von den meisten hat man noch nicht so richtig gehört, dass sie sich zu ihren Gewaltmaßnahmen bekannt und im Grundsatz davon verabschiedet haben, sondern sie begeben sich in die Opferrolle. Dabei sind sie die Täter!

Im Westen sieht es anders aus. Ich bin in einer Studentengeneration groß geworden, in der das Gespräch mit dem Marxismus Alltag war. Anders wäre auch ein Satz des ehemaligen rheinischen Präses Peter Beier nicht zu verstehen, der unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sagte, das Humanum des Sozialismus müsse bewahrt bleiben. Es gab sehr interessante Gespräche, geführt aber meist von denjenigen, die im marxistischen Lager auch unter Druck waren. Das Gespräch ist erlahmt, weil uns die Exponenten dieses Gesprächs abhanden gekommen sind. Was ich heute etwa als politisches Freidenkertum wahrnehme, bewegt sich häufig auf dem Niveau der Religionskritik des 19. Jahrhunderts – Feuerbach. Das ist nun wirklich nicht mehr so spannend.

Ist die Kirche also im Osten auf dem Rückzug?
Überhaupt nicht! Es gibt gegenläufige Tendenzen bei den Menschen in Ostdeutschland, ein Rieseninteresse an kirchlicher Kultur, Bildungs- und sozialen Einrichtungen der Kirchen. Es ist vermutlich wie in der Bibel mit Israels Wanderung in der Wüste, das Maß ist immer eine Generation. Schauen wir also in 40 Jahren noch einmal. Bis heute gibt es zudem zahlreiche west-ost-deutsche Gemeindepartnerschaften. Es gibt nach wie vor einen erheblichen Finanztransfer der westlichen zu den östlichen Gliedkirchen. Die Kirche hat zumindest als Gebäude für ein Dorf eine erstaunliche Bedeutung als Identifikationspunkt, selbst wenn die Einwohner zu 90 Prozent keine Kirchenmitglieder sind. Aber ob man in all diesen Gebäuden wieder Leben entfachen kann, ist fraglich, das geht wirklich über unsere Kraft als Kirche in Ostdeutschland.

Warum zieht sich die Kirche im Osten immer weiter zurück? Als nicht zuletzt zivilisatorische Institution. Etwa mit Blick darauf, dass in manchen Dörfern anscheinend nur noch die Rechtsradikalen präsent sind.
Wir ziehen uns nicht zurück: Die Pfarrerinnen und Pfarrer in Ostdeutschland machen gute Arbeit, aber es gibt Grenzen der Kraft. Ich bedauere es, dass die Rechtsradikalen in vielen Teilen so freie Bahn haben. Wir müssen alles tun, damit wir dem wehren und nah bei den Menschen sind. Als linke Kritik lass ich mir das aber nur schwer gefallen, denn die Linken haben ja dazu beigetragen, dass wir Kirchen diese Kraft nicht mehr haben.

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