Kommando Zugbrücke hoch

Unionspolitiker setzen auf Abschottung vor »Wirtschaftsflüchtlingen«

  • Lesedauer: 3 Min.
Abschotten gegen nordafrikanische Migranten: Kaum mehr fällt der Union in der Flüchtlingsdebatte ein.

Berlin (ND-Drescher/Agenturen). Die Debatte um den Umgang mit den nordafrikanischen Flüchtlingen, die Europa vor allem über die italienische Insel Lampedusa erreichen, geht ungebremst weiter. Immer noch befeuert von Italiens Ankündigung, tunesischen Flüchtlingen befristete Visa auszustellen, scheint unter Unionspolitkern dabei eine Art Wettkampf ausgebrochen zu sein: Wer lehnt die Aufnahme von »Wirtschaftsflüchtlingen« am heftigsten ab.

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) warnte am Motagabend in den ARD-»Tagesthe- men« Italien davor, Nordafrika zu signalisieren, dass die Schleusen in Europa offen seien. Ein solches Signal könne man nicht akzeptieren, so Friedrich. Ähnlich äußerte sich CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt. Sie sprach von einem falschen Signal – ersetzte jedoch die Schleusen durch »die Türen Europas«. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann sieht ohne Gegenmaßnahmen gar »eine Welle von Wirtschaftsflüchtlingen auf uns zurollen«. Die Gegenmaßnahme die Ihm vorschwebt: Der Einsatz der EU-Grenzpolizei Frontex vor der tunesischen Küsten müsse ausgeweitet werden. Und Bayerns Innenminister will gleich Taten sprechen lassen und kündigte am Dienstag an, die verdachtsunabhängigen Kontrollen in grenznahen Gebieten zu verstärken. Im Rahmen der Schleierfahndung solle ein besonderes Augenmerk auf illegale Migranten gelegt werden. »Ich habe die bayerische Polizei angewiesen, hier verstärkt zu kontrollieren.«

Kritik an der ablehnenden Unionsfront gegen die Flüchtlinge sowie Forderungen nach einer anderen europäischen Flüchtlingspolitik kommen von den Oppositionsparteien, Kirchen und Organisationen – aber auch den Liberalen. Der außenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion im EU-Parlament, Alexander Graf Lambsdorff, sagte am Dienstag im WDR, »Liberale, Sozialdemokraten und andere« hätten eine andere Auffassung als Friedrich davon, »wie eine moderne Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik auszusehen hat«. Die Flüchtlinge müssten in Europa verteilt werden. »Das sind 20 000 Leute in einer Union von 500 Millionen Menschen, das wird uns alle nicht umbringen.«

»Europa kann auf die Situation der Flüchtlinge aus Nordafrika nicht so reagieren, dass einfach die Zugbrücken hochgezogen und Europa zur Festung erklärt wird«, sagte Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin in Berlin. Die innepolitische Sprecherin der Linksfraktion, Ulla Jelpke, warf Friedrich vor, Menschen aus Nordafrika pauschal als Wirtschaftsflüchtlinge zu diffamieren. »Dabei haben Menschen, die derzeit die nordafrikanischen Länder verlassen, ganz unterschiedliche Gründe. Manche mögen wirtschaftliche Motive haben, was angesichts der jahrzehntelangen neokolonialen Ausbeutung dieser Länder verständlich ist. Doch der NATO-Krieg in Libyen erzeugt Kriegsflüchtlinge, und in Ägypten schießt das Militär trotz des Sturzes von Mubarak auf Demonstranten.«

Eine »aktive europäische Flüchtlingspolitik« forderte der Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider. Er kritisierte die bisherige Debatte in der »Passauer Neuen Presse« als »beschämend« und verlangte statt eines »Schwarzer-Peter-Spiels« zwischen den europäischen Staaten ein »abgestimmtes europäisches Einwanderungsprogramm«. Europa müss seine Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge und Migranten beenden und endlich seine humanitäre Verantwortung wahrnehmen, verlangte der Verband deutscher Entwicklungsorganisationen VENRO.

Immerhin sprach sich Schünemann im NDR auch für ein wirtschaftliches Hilfs- und Entwicklungsprogramm für Tunesien aus, »eine Art Marshallplan«. Ob und wann es ein solches Programm geben könnte, ist jedoch völlig offen – Ablehnen und Abschotten genießt augenblicklich die höchste Priorität. Seite 6

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