Die Wundertüte des Lebens

»Immer ich« – wenn sie erzählt, hat Gisela Steineckert ein Du im Blick

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Was sie auszeichnet, ist ihr Mut zur Nähe. Ja, Nähe zuzulassen, braucht mitunter Mut. Nicht jedem ist es gegeben, sich so zu öffnen und dadurch Resonanz herzustellen. Es ist ein guter Wille, dass Andere sich bestärkt, befreit fühlen sollen. Wenn Gisela Steineckert vor einem großen Publikum sitzt – zu wie vielen Lesungen wurde sie wohl schon eingeladen? – dann ist es so, als ob ihr Blick jeden einzelnen umarmte. Und so soll es auch Lesern ihres neuen Buches gehen: »Immer ich« – das meint immer auch ein »Du«.

Sie arbeite an einer Autobiografie, war vorher vom Verlag zu hören. Aber entstanden ist, wieder mal, eine Sammlung von Geschichten, die geradezu danach »rufen« vorgetragen zu werden. Eine Autobiografie ließe sich daraus wohl zusammendenken, aber der Reiz ist ja gerade, wie leichtfüßig, geradezu tänzerisch Gisela Steineckert durch das Netzwerk ihrer Erinnerungen geht, sie auf vielfältigste Weise mit dem Heute verknüpft, mit Erfahrungen, die sie gewonnen hat. Und das alles, wie gesagt, mit Blick auf Leser, die es auch nicht immer leicht hatten, mit ihrem Leben klar zu kommen, die immer mal wieder an sich zweifeln, sich Sorgen machen. Dass sie damit nicht allein sind, sollen sie wissen und getröstet sein.

Eine Künstlerin, die sich in jeder Sekunde bewusst ist, eine Frau zu sein und eben kein Mann. Weibliches Denken, weibliches Schreiben – also auch weibliches Lesen? Aber nein! Wer einmal in einer Veranstaltung von Gisela Steineckert war, hat garantiert auch begeisterte Männer gesehen. Die dürfen sich von ihr verstanden fühlen, wie eine Frau einen Mann versteht (wenn sie es kann). An einer Stelle dieses Buches spricht sie von einem »besonders faden Mann. Wie sie eben geraten, wenn sie nicht beachtet, nicht geliebt und nie gerühmt werden«.

Das soll in ihrer Nähe niemandem geschehen. Ihr Mann, Wilhelm Penndorf, mit dem sie seit 1971 verheiratet ist, mag das Buch als Erklärung unsterblicher Liebe und Zusammengehörigkeit verstehen, auch wenn darin freimütig von früheren Ehen, anderen Männern die Rede ist. »Um üblichen Weiberweg« würde es gehen, verspricht Gisela Steineckert zu Beginn, »um unübliche Umwege, um Irrtum und das Gewinnen einer Kraft, mit der niemand geboren wird«. Oder doch in gewissem Maße? Da ist Laura Marie, die Enkelin: »Sie hat mir ruhige Augen gemacht, mitten in unruhigem Leben.« Schon als sie klein war: »Sie sah mich immer an, als ob sie alles, oder das Wichtige, versteht.«

Wie wir der Freundlichkeit bedürfen und deshalb Freundlichkeit auch immer geben sollten, wird uns lesend einmal mehr bewusst. Gutes sagen, Gutes tun – es erstaunt immer wieder, wie Gisela Steineckert andere Menschen in ihren Besonderheiten zu erkennen, ja zu rühmen versteht. Bewundernd, ohne Neid, blickt sie auf fremde Erfolge. Über 80 Namen von Schriftstellern, Sängern, Musikern, Schauspielern, Malern und anderen Prominenten aus der DDR habe ich im Text gezählt, wahrscheinlich sind es sogar mehr. Im Laufe ihres Lebens ist Gisela Steineckert mit vielen Berühmtheiten zusammengekommen. Erinnerungen, die sie glücklich machen. Was sie selber schrieb, womit sie Erfolg hatte, es wird oft nur wie nebenbei angemerkt. Das Ringen um Anerkennung, das zum Künstlerberuf fast schon dazu gehört, bei ihr spürt man es nicht. Bescheidenheit? Nein, Sicherheit. Die Bestärkung ist doch gegenseitig, wenn sie vor vollbesetzten Sälen ihre Texte spricht.

Bei manchem Satz in diesem Buch mag sie schon das Lachen und den Applaus im Ohr gehabt haben. Es gibt Geschichten, die sind richtig auf die Reaktionen des Publikums zugeschrieben. Köstlich »Immer zur Weihnachtszeit«, »Weitgereist durch Berlin«, »Die Fliege« oder »Zwanzig tolle Jahre«. Im schnellen Wechsel von Themen und Gefühlslagen gelingt der Autorin jene »Mischung, die sie selber und die anderen in sehr unterschiedliche Stimmung führt, zum »Lachen und der kleinen Traurigkeit der eigenen Seele«.

Aber es gibt auch nachdenklich Stilles; ein Lebenslauf will durchgearbeitet, der Untergang eines Staates begriffen sein. »Die DDR und ich – wir haben immer mal wieder recht gut zusammen gelebt«, so beginnt eine Geschichte, in der beschrieben ist, wie es gerade mal nicht gut ging. Mit welcher Arroganz Funktionäre über Kunst – und damit über Menschen – zu befinden trachteten, wie sie vornehmlich das ideologisch Brauchbare im Blick hatten, das musste zurückgewiesen, aber auch einkalkuliert werden, wenn man als Interessenvertreter von Künstlern etwas durchsetzen wollte. Gisela Steineckert hatte Funktionen im Schriftstellerverband, gründete mit das Komitee für Unterhaltungskunst, war von 1984 bis 1990 dessen Präsidentin. Querelen mit der Macht kommen zur Sprache ebenso wie Kompromisse, die sie für notwendig hielt. Von späteren Vorwürfen gegen sie ist die Rede. Sie ist nicht verbittert. Schlussstrich unter einen Staat, der an seinen Dogmen erstickte. Verbunden mit der Bekundung – da scheint sie wieder ins Publikum zu blicken, »dass wir hier mit allen menschlichen Gefühlen und Anfechtungen, allen Niederlagen und Auferstehungen unser Leben gelebt haben«.

Das Geschriebene ist wie gesprochen. Aufrichtig, wie Gesprochenes sein kann. Aber dabei ist nichts Selbstquälerisches. Auch das später als falsch, als irrig Erkannte kann offenbart werden, weil es nichts Abgespaltenes, Verdrängtes ist. Konflikte werden benannt, nicht aufgerissen. Heil werden und sein als Lebensziel.

Gisela Steineckert wird dieses Jahr achtzig, was man nicht glaubt, wenn man sie sieht. »Der Mensch ist die Wundertüte des Lebens«, zitiert sie den Schauspieler Horst Drinda. Und an anderer Stelle: »Ich bin zu alt, um zu glauben, dass ich verstehe, was sich im Leben so wunderbar vielfältig fügt.« »Der Zauber kommt aus der Freude«, sagt sie in meinem Lieblingskapitel »Über Magie und Trost«. Bist du müde? Das kommt vor. Bist du traurig? Geht vorbei. »Atme«, heißt es beschwörend in einem Gedicht am Schluss des Bandes, »jemand liebt dich / es ist dein oft übermüdetes, unterdrücktes Ich/ dein Ich liebt dich/ du wirst geliebt/ atme so, atme«.

Gisela Steineckert: Immer ich. erlebt und erinnert. Verlag Neues Leben. 301 S., geb., 16,95 €.
Am 11. Mai, 18.30 Uhr, tritt Gisela Steineckert bei »ND im Club« im Haus am Franz-Mehring-Platz auf.

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