Sind wir gefangen in der Aggressionsgesellschaft?

Egoismus statt Solidarität: Wenn Kinder früh schon lernen, die Ellenbogen zu gebrauchen

  • Michael Grandt
  • Lesedauer: ca. 7.0 Min.

Ist Deutschland wirklich eine solidarische Gesellschaft? Mitnichten. Denn überall ist nur Egoismus, Neid und Habgier erkennbar. Gerade im Westen der Republik herrscht zuweilen zivile Anarchie. Dort schwindet der Solidaritätsgedanke mehr und mehr und verwandelt die Solidaritäts- in eine Aggressionsgesellschaft. Was wird aber, wenn die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft nur noch sich selbst verpflichtet sind und nicht mehr der Allgemeinheit?

Immer mehr Paare lassen sich schon nach kürzester Zeit wieder scheiden, Mitarbeiter werden handgreiflich gegen ihre Vorgesetzten, Nachbarn bekämpfen sich bis aufs Blut, Autofahrer schießen aufeinander, Schüler töten ihre Lehrer. Das sind Phänomene eines immer stärker brutalisierten und aggressiven Umgangs miteinander, der keine positiven Zukunftsaussichten erwarten läßt. Ist unsere Gesellschaft krank? Die zunehmende »Medial-Brutalisierung« unserer Welt »legitimiert« Gewalttätigkeit als soziales Alltagsphänomen. In unserer Leistungs- und Ellenbogengesellschaft nimmt der Druck auf den Einzelnen ständig zu. Zudem gaukeln Medien paradiesische Konsumwelten vor und wecken damit häufig unerfüllbare Bedürfnisse. Für Hausbau, Reisen, Auto- und Möbelkauf werden teure Kredite aufgenommen, die oft nicht mehr zurückbezahlt werden können. Einmal in dieser »Schuldenfalle« gefangen, gibt es nur schwerlich wieder einen Ausweg. Das frustriert, macht Menschen unglücklich, aggressiv und gewaltbereit, was wir täglich in der Warteschlange im Supermarkt und in der Auseinandersetzung mit unseren Mitmenschen beobachten können. Es ist gerade diese »kleine« Gewalt, die unseren Alltag durchdringt und uns zu willigen »Vollstreckern« werden lässt: Beleidigungen, Neid, Missgunst, Rücksichtslosigkeit, Intoleranz, Autoraser, Parkplatzdiebe, randalierende Kunden, Handgreiflichkeiten. Immer mehr Menschen lehnen eine soziale Kontrolle ab, die von einem politisch desolaten Staat ausgeübt wird. Politikverdrossenheit bedeutet auch die Abkehr von der Solidarität. Eine gefährliche Auswirkung. Das Merkmal des gesellschaftlichen Wandels der letzten Jahre ist die Individualisierung. Lebensstile und Denkweisen sind nicht mehr kompatibel mit einer auf Solidarität ausgerichteten Gesellschaft. Sozialrituale und Kulturrollen werden nicht mehr vermittelt. Hier versagt nicht nur der Staat, dessen Repräsentanten mit müden Phrasen ihre eigenen Skandale vertuschen und den Bürger zu einem »ehrlichen« Steuerzahler formen wollen, nein, hier versagen vor allem auch die Eltern unserer Kinder, die oft tern, die nicht in der Lage sind, ihr eigenes Leben, geschweige dann das ihrer Kinder auf die Reihe bekommen und ihre Verantwortung nur zu gern auf staatliche Institutionen, sprich Kindergärten und Schulen abwälzen. Auch die antiautoritäre Erziehung (»Mami, Mami, warum müssen wir denn heute schon wieder machen, was wir wollen?«) hat zur Maßlosigkeit vieler Kinder beigetragen, die ihre Eltern nurmehr als Sklaven und Diener betrachten, anstatt eigene Verantwortung zu übernehmen. Ich meine: Wenn ein 8jähriger mit einem Computer umgehen kann, muss er auch in der Lage sein, eine Geschirrspülmaschine zu bedienen; wenn er geschickt genug ist, um Skateboard zu fahren, kann er auch ein Hemd bügeln oder einkaufen gehen. Wir müssen unseren Kindern wieder beibringen, dass sie selbst einen Beitrag für »ihre« Familie zu leisten haben und ihnen damit schon von klein an Verantwortung und Eigeninitiative übergeben... Die Angst vor gewalttätigen Kindern und Jugendlichen greift immer mehr um sich. Lehrer und Eltern sind nicht erst seit der schrecklichen Tat in Erfurt beunruhigt über die Zunahme aggressionsbereiter Psychopathen, die noch in den Kinderschuhen stecken. Sie stehen ihren Vorbildern, den Eltern in nichts nach: Sie mobben und schikanieren ihre Altersgenossen genauso wie Erwachsene. Das reicht schon bei Erstklässlern vom Auslachen, Verspotten, Verpetzen bis zur Rücksichtslosigkeit, falschen Beschuldigungen und Ausschließen von Mitschülern. Soziale Probleme und ethnische Unterschiede werden auf dem Pausenhof in Form von Randale entladen. Eine Studie ergab, dass pro Klasse mindestens ein Kind gemobbt wird. Es ist entweder kleiner, schwächer, intelligenter oder spricht einen anderen Akzent. Aber auch besonders brave Kinder sind bevorzugte Opfer ihrer Mitschüler. Mädchen werden von beiderlei Geschlecht angegriffen, während Jungen vorwiegend nur von Jungen attackiert werden. Allgemein ist festzustellen, dass häufig Moral und ethische Werte dem puren Egoismus geopfert werden, der den Erwachsenen in nichts nachsteht. Wie auch, wenn Kinder schon lernen, dass man in unserer »Leistungsgesellschaft« nur mit dem Gebrauch der Ellenbogen weiterkommt? Schon sehr früh, etwa im Kindergarten oder in der Schule, erkennen die Kinder, dass Durchsetzungsvermögen angesagt ist. Schwache bleiben gnadenlos auf der Strecke, Starke nehmen sich, was sie brauchen. Rücksicht und Toleranz sind Fremdwörter geworden, ein weiteres Merkmal unserer Aggressionsgesellschaft. Wo sollen dann noch Werte vermittelt werden, wenn auch die Eltern kein Interesse daran zeigen? Kindergärtnerinnen und Lehrer sind meist überfordert und auf keinen Fall allein dafür verantwortlich, dass eine Wertevermittlung stattfindet. Diese muss früher, viel früher, schon lange vor der Schule geschehen - und zwar von Seiten der Eltern. Aber leider ist die postmoderne Kleinfamilie dem Selbstverwirklichungsdrang beider Eltern ausgeliefert, so dass fast keine Zeit mehr für den Nachwuchs, geschweige denn einer kindgerechten Erziehung bleibt. Dabei ist gerade eine glückliche Familie für Kinder besonders wichtig. Zugegeben, auch eine sozialhilfe-abhängige Familie kann ihrem Nachwuchs Liebe und Zuwendung geben, aber wer sich nicht belügt, weiß auch, dass eine finanzielle Absicherung für die Stabilität einer Familie nicht unbedeutend ist. Aus Unzufriedenheit wächst Frust und aus Frust Aggression, die sich weitergibt. Kinder brauchen Vorbilder und was ist ein Familienvater für ein Vorbild, der seit Jahren von der Stütze lebt und perspektivlos, unmotiviert und ohne Eigeninitiative dahinvegetiert? Nicht erst seit der Pisa-Studie richten sich sorgen- und doch auch hoffnungsvolle Blicke auf unsere jungen Menschen, auf die Generation, die Zukunft macht. Jedoch sind die Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Jugendlichen nicht kleiner, sondern eher größer geworden. Ihr Deutschlandbild ist von der eigenen Lebenssituation gebildet und nicht aus politischen Ideologien. Die Jugend hierzulande emanzipiert sich immer mehr von den Perspektiven und Rollenbildern ihrer Väter und Mütter, was das Resultat eines gesellschaftlichen Umbruchs ist, der beinahe im Verborgenen stattfand. Die neue Generation befindet sich im Spannungsfeld zwischen traditionellen Familienwerten und Moralverfall, Hightech und sozialem Abstieg, aber auch von sozialer Abzockerei, einhergehend mit einem permanenten Verfall von Sitte und Moral. Wer hält heute alten Menschen noch die Tür auf oder macht ihnen im Bus den Platz frei, oder hilft seiner Frau in die Jacke? Höflichkeit, Anstand und Traditionen, wo sind sie geblieben? Sind Jugendliche heute wirklich unhöflicher, nicht mehr so fleißig, so ordentlich und so gehorsam wie zu früheren Zeiten, was ältere Menschen häufig beklagen? Sind die »alten« Werte in einer Welt des Hightech, der Computer und der Gentechnik wertlos geworden? Zwar gibt es diese eingeforderten Tugenden und eine verbindliche Moral schon lange nicht mehr und schon gar nicht in der öffentlichen Sphäre, aber schaden könnten sie dem Einzelnen auch nicht. Die Jugendarbeitslosigkeit nimmt beängstigende Formen an. Wer »hip« sein will, macht auf arbeitslos und brüstet sich am Freundes-Stammtisch damit. Nur wenige »Streber« erklimmen die steilen und langen Karriereleitern. Dabei haben es die »verwöhnten« Kids aus dem Westen besser als ihre Altersgenossen aus dem Osten. In den neuen Bundesländern gibt es unbestritten weniger Lehrstellen, und mancher Arbeitswilliger ist seit Jahren Dauergast auf dem Arbeitsamt. Firmen aus Bayern und Baden-Württemberg veranstalten sogar schon »Messen« in den neuen Bundesländern, um an dringend benötigte Mitarbeiter zu kommen. Oftmals erhalten die Arbeitswilligen sogar den Umzug bezahlt oder eine Wohnung im Süden der Republik gestellt. Bis die, von Politikern seit Jahren vielbeschworene Wende in Ostdeutschland eintritt, können noch einige Dekaden vergehen. Darauf zu warten ist nicht sinnvoll und belastet den Sozialstaat schwer. Ich möchte zwar nicht so weit gehen wie die deutsche Soziologin Sybille Tönnies, die schon vor einiger Zeit die Wiedereinführung eines Arbeitsdienstes für sinn- und orientierungslose Jugendliche forderte. Aber kann es angehen, dass »die Alten« oder der Staat »die Jungen« ernähren? Was können wir also tun, um uns aus der Gefangenschaft in dieser Aggressionsgesellschaft zu befreien? Wir müssen vor allem unseren Kindern positive Zukunftsperspektiven bieten. Hier sind alle gefordert: Die Eltern, die Lehrer, der Staat. Wir müssen Begeisterung und Optimismus weitergeben, aber auch Träume und Fantasie sind wichtig. Wir müssen zivile Werte vermitteln, wie Anstand, Disziplin, Fleiß, Höflichkeit und Eigenverantwortung. Eltern müssen Vorbilder für ihre Kinder sein, müssen ihnen vertrauen, ihnen zuhören und helfen. Anerkennung und Lob ist genauso wichtig wie Ermuntern und Verzeihen. Kinder müssen auf einem starken Selbstbewusstsein basierend, ein Unrechtsbewußtsein und zivile Toleranz entwickeln. Gerade um Kinder und Jugendliche müssen wir uns verstärkt kümmern. Das ist in erster Linie die Verantwortung der Eltern. Jugendliche müssen sich heute, mehr noch als ihre Väter und Mütter, besser vorbereiten, ausbilden und qualifizieren. Das scheint jedoch im offenen Widerspruch zur heutigen »Spaßgesellschaft« zu stehen. Aber es ist eine unumstößliche Wahrheit: Bildung wird immer wichtiger. Nur die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen wird eine gewisse Beschäftigungsgarantie erbringen. Das Wichtigste scheint mir eine richtige Kommunikation zu sein. Im Zeitalter von SMS, E-Mail, Internet und Fax haben viele verlernt, persönliche Gespräche zu führen. Nicht nur die Kommunikation zwischen Kindern scheint gestört, nein auch die zwischen Erwachsenen. Und wir sollten versuchen, das Prinzip von »Sieg oder Niederlage« im Umgang miteinander zu überwinden. Respekt, Akzeptanz, Toleranz und Freundlichkeit müssen in unserer Gesellschaft wieder Vorrang haben. Ebenso ein klarer Menschenverstand und Rücksichtsnahme, auch die Bereitschaft, Konflikte miteinander und nicht gegeneinander zu lösen. Zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, zwischen normalem Denken und pathologischem Wahn, zwischen Gesundheit und Irrsinn gibt es vielfältige Verbindungen und Übergänge. Der Mensch ist das, was er aus sich macht. Die Verantwortung...

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