Kronzeugen der Katastrophe
Tschernobyl-Ausstellung im Willy-Brandt-Haus zeigt »Verlorene Orte. Gebrochene Biografien«
Als Oleksandr Kumarynets am Weihnachtstag des vergangenen Jahres starb, sagte ihm der Ort Fukushima wahrscheinlich noch nichts. Zum 24. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl beschwor das ehemalige Mitglied des Spezialbataillons 731, das den explodierten Reaktor wenige Tage nach dem Unfall mit 5000 Tonnen Sand, Blei und Dolomit zugeschüttet hatte, die Welt mit dem Ruf: Es möge niemals ein neues Hiroshima, Nagasaki oder Tschernobyl geben. Wer von den Reservisten der Sowjetarmee überlebt hat, weiß nun, dass den drei Schreckenswörtern inzwischen ein viertes hinzugefügt werden muss. Gewissermaßen als Kommentar zu den aktuellen Nachrichten aus Japan ist die Fotoausstellung »Tschernobyl: Verlorene Orte. Gebrochene Biografien« im Willy-Brandt-Haus zu lesen.
Im Lichthof des Gebäudes sind Aufnahmen und kurze Statements von einem guten Dutzend jener »Liquidatoren« genannten Katastrophenhelfer zu sehen, die der Fotograf Rüdiger Lubricht jüngst abgelichtet hat. Meist handelt es sich um weißhaarige Männer in Uniform, deren Brust von Orden behangen ist. Sie fühlen sich – zu Recht – als Helden und auch als »Retter Europas«: Ohne ihren Einsatz und den ihrer Kollegen hätte die radioaktive Wolke auch über Westeuropa stärker gestrahlt. Umso gewichtiger ist ihre Kritik an den Ereignissen, die in Teilen wie ein grausiger Dialog mit der japanischen Gegenwart anmutet.
»Die Regierung verheimlichte damals die Wahrheit«, sagt Oberstleutnant a. D. Josef Belapko. Er kann heute noch nicht verstehen, warum Partei- und Staatsführung die Bevölkerung des nahe am Reaktor gelegenen Städtchens Pripjat noch wenige Tage nach dem Unfall zur 1. Mai-Kundgebung befahl. »Warum wurden die Menschen nicht gleich evakuiert?«, fragt er. Belapko erzählt von vorher eingeübten Strahlenschutzmaßnahmen, die der Realität einfach nicht standhielten. Er berichtet von Korruption und Missmanagement.
Belapko erzählt auch, wie die Strahlendosis je nach Dienstgrad, aber fern der Realität notiert wurde: »Die Vorgesetzten, die für einen Tag aus Moskau hierher kamen, bekamen 15 Röntgenstunden Belastung aufgeschrieben. Wir, die wir vier Monate vor Ort waren, erhielten nur 3 Röntgenstunden.« Die manipulierte Informationspolitik illustriert auch eine Aussage des Ingenieurs Arkadi Rochlin. Er wurde im August 1986 mit 99 Kollegen nach Tschernobyl verlegt, um dort eine Starkstromleitung zu verlegen. »Als wir ankamen, hatten wir Schutzmasken und Messgeräte. Der KGB nahm uns die Messgeräte ab. ›Hier messen wir die Strahlenwerte, ihr bekommt die Speicher‹, erklärte der KGB«, erinnert sich Rochlin. Die Arbeiter erfuhren nie, welche Strahlenbelastung ihre Körper aufnahmen.
Von den 100 Arbeitern und Ingenieuren sind 95 mittlerweile verstorben. Mykola Bosyl, Kommandant des legendären Spezialbataillon 731, erklärt, dass dieses in erster Linie aus Reservisten gebildet wurde. »Im Nachhinein verstehe ich, warum die Militärverwaltung Zivilisten einzog. Es ist leichter, 353 Zivilisten verschwinden zu lassen, als eine reguläre militärische Einheit«, lautet sein Fazit. Es habe damals nicht einmal einen schriftlichen Befehl gegeben. Alles sei mündlich erfolgt. Seine Männer hätten es deshalb schwer, vor Gericht Entschädigungen wegen der erlittenen Gesundheitsschäden zu erlangen.
Diese Galerie der Kronzeugen von Fahrlässigkeit, Manipulation und Vertuschung kontrastiert Lubricht mit aktuellen Aufnahmen der Gegend um den Reaktor, die im zweiten Stock zu sehen sind. Er zeigt ein Riesenrad vor einem Hochhaus, das sich seit 25 Jahren nicht mehr dreht. Plüschtiere liegen verstreut in einem ehemaligen Kindergarten. Lubricht hat aber auch einige von jenen »Samosely« (Selbstansiedler) genannten Menschen aufgesucht, die zurück in die verseuchte Zone gezogen sind. Es handelt sich vornehmlich um alte Frauen mit zerfurchten Gesichtern, die gebeugt zwischen einzelnen Hütten schlurfen und sich von Milch der Ziegen sowie Beeren und Pilzen aus dem Wald ernähren. Mehrere Hundert von ihnen soll es mittlerweile geben. »Die Behörden dulden sie. Sie sorgen dafür, dass sie auch ihre Rente erhalten«, erläutert Astrid Sahm von der Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte »Johannes Rau« in Minsk. Auch ein Paar mit einem Kind ist mittlerweile in die Zone zurück gegangen. Eine Metapher für die überzogene Fortschrittsgläubigkeit des Menschen ist, dass diese Personen, die jetzt in unmittelbarer Nähe des geborstenen Energiemonsters hausen, ohne Strom und Licht auskommen müssen.
Bis 29.5., Willy-Brandt-Haus, Stresemannstr. 28, Eintritt frei, Ausweis erforderlich
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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