Mythos Kiezaufstand

In Kreuzberg gibt es vor dem 1. Mai historische Führungen zur Geschichte der Demonstrationen

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 3 Min.
Stachel im Fleisch des Springer-Konzerns: Die Rudi-Dutschke-Straße vor dem Verlagssitz
Stachel im Fleisch des Springer-Konzerns: Die Rudi-Dutschke-Straße vor dem Verlagssitz

»Sind die Häuser in Friedrichshain eigentlich erst später besetzt worden?«, fragt die junge Frau Bill Haywood. Wir stehen auf der Mittelinsel des verkehrsumtosten Kottbusser Tors. Haywood hat soeben seine Worte zum Kreuzberger Häuserkampf der 70er und 80er beendet. Seit letztem Jahr bietet er unter dem Titel »Revolutionäres Berlin« Führungen zur Geschichte der Kreuzberger 1. Mai-Demos an. Mit bewundernswerter Ruhe erklärt er der politisch interessierten Dame, dass solche Dinge in der DDR nicht möglich gewesen sind und es so etwas daher in der östlichen Stadthälfte vor der Wende 1989 nicht gab.

Die naive Frage zeigt den offensichtlichen Bedarf an Information zu noch gar nicht allzu weit zurückliegenden Geschehnissen. An die 20 Leute – unter anderem Schweden, Russen und Deutsche – haben sich an diesem sonnigen Sonntag zwischen Baucontainern und blühenden Obstbäumen eingefunden, um Hintergründe zu den alljährlichen Kreuzberger Maifestspielen zu erfahren. Fast alle haben den Termin aus dem Stressfaktor, dem Infoblatt der Berliner Autonomen. Als erster Programmpunkt wird von jedem Teilnehmer 5 Euro Spende eingesammelt. Die Einnahmen leitet Haywood an linke Organisationen weiter. Er macht die Führungen für die Sache, nicht für den eigenen Verdienst, wie er sagt.

Vom Kottbusser Tor führt der Weg weiter in die Dresdner Straße zum Wahlkreisbüro von Hans-Christian Ströbele, dem direkt gewählten Bundestagsabgeordneten der Grünen. Haywood spricht über den Lebenslauf des ehemaligen RAF-Anwalts, erzählt, dass Ströbele immer noch auf praktisch jeder Demonstration zu sehen sei und moniert zugleich, dass der Anwalt so wie die ganze Partei weiter nach rechts gerückt wäre. »Inzwischen kommt Ströbele immer ungefähr zehn Minuten nachdem die Anwesenheit eines Bundestagsabgeordneten sinnvoll gewesen wäre«, beklagt er sich.

Über den Oranienplatz geht es Richtung Görlitzer Bahnhof. Die Teilnehmer der Tour erfahren Hintergründe über Rudi Dutschke und den Axel-Springer-Verlag. Und auch, warum Maidemonstrationen in Westdeutschland irgendwann ziemlich verpönt waren: »Die DDR-Paraden auf der Karl-Marx-Allee hat man angeblich damals bis hier gehört. In der Bundesrepublik wollten viele damit nichts zu tun haben.« Ein barfüßiger Herr mit Hund kreist ein-, zweimal um die Gruppe, um sich anschließend über komplizierte Fördermittelanträge zu beklagen. Haywood zuckt mit den Schultern.

Er kommt schließlich auf die Volkszählung 1987 zu sprechen, die maßgeblich zum so genannten Kiezaufstand 1987 geführt hatte. In diesem Jahr eskalierte das friedliche Fest auf dem Lausitzer Platz, nachdem es nach kleineren Zwischenfällen am Rande der Veranstaltung unter massivem Knüppel- und Tränengaseinsatz durch die Polizei aufgelöst wurde. In der Folge musste sich die Polizei komplett aus dem Gebiet zurückziehen. Es kam zu Plünderungen – von Haywood als »Umverteilung von Lebensmitteln« eingeordnet – und Brandstiftungen. »Es war so ein Erfolg, dass es bis heute stattfindet«, sagt der Stadtführer.

»Nicht die Polizei hatte am Ende gesiegt, sondern der Alkohol«, resümiert Haywood ganz in der Tradition früherer Arbeiterermahnungen die Rückkehr der Staatsmacht am nächsten Morgen. Das passt, schließlich hat er sich seinen Aliasnamen von einem bedeutenden amerikanischen Arbeiterführer vom Anfang des letzten Jahrhunderts geliehen.

Auf dem Weg gen Mariannenplatz spricht er über die folgenden Zerwürfnisse innerhalb der Linken, subtilere und chirurgischere Polizeitaktiken der letzten Jahre. Zum Schluss folgen noch die üblichen Hinweise, wie man sich richtigerweise als Teilnehmer auf so einer Demo verhalten sollte. »Die Polizei entscheidet letztendlich, wie viel Gewalt sie haben will«, sagt er.

Weitere Führungen finden, allerdings nur auf Englisch, an folgenden Terminen statt. Treffpunkt ist immer die Mittelinsel des Kottbusser Tors. Do, Fr, Sa, 28.-30. April, jeweils um 16 Uhr.
Infos im Internet: www.revolutionaeresberlin.wordpress.com

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