Schengen auf dem Prüfstand

Bundesregierung hält den grenzfreien Verkehr in Europa für unantastbar

Seit Tagen wird in Europa eine Reform des Schengen-Abkommens diskutiert. Jetzt hat sich die Bundesregierung zu Wort gemeldet. Mit ihr sei die Einschränkung der Reisefreiheit nicht zu machen, heisst es aus Berlin.

Angesichts zehntausender Flüchtlinge aus Nordafrika wollen Frankreich und Italien das sogenannte Schengen-Abkommen reformieren, das seit Mitte der 1980er Jahre unter anderem den grenzfreien Reiseverkehr zwischen ausgewählten Staaten Europas regelt. Beide Länder plädieren dafür, das Abkommen zeitweise aufzuheben. Passkontrollen an den EU-Grenzen und Einschränkungen der Reisefreiheit müsse man dann in Kauf nehmen, so das Kalkül.

Die Bundesregierung steht diesem Vorschlag skeptisch gegenüber. Sie hält den grenzfreien Verkehr innerhalb der 26 Länder des Abkommens für unantastbar. »Wir müssen in Erinnerung behalten, dass Schengen ein großer europäischer Wurf ist«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Diesen wolle man ausdrücklich verteidigen, so Seibert weiter.

Das sieht Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) etwas anders. Schon vor Wochen brachte er Kontrollen an der bayerisch-österreichischen Grenze ins Gespräch. Italien stellt nordafrikanischen Flüchtlingen seit Anfang April Sondervisa aus, mit denen sie – zum Argwohn Friedrichs und anderer konservativer Hardliner – durch den Schengen-Raum reisen können. Bei »außergewöhnlichen Ereignissen« wie der massenhaften, illegalen Einreise von Flüchtlingen müsse die Einführung von Grenzkontrollen möglich sein, meinte Friedrichs Sprecher Jens Teschke.

Eine Auffassung, der die Grünen vehement widersprechen. Durch eine Aufweichung des Abkommens werde die europäische Idee »vor die Wand« gefahren, kommentierte Partei-Chefin Claudia Roth. Und Marei Pelzer von der Flüchtlingsorganisation »Pro Asyl« nannte das Infragestellen von Schengen gegenüber ND »reinen Populismus«.

Doch offenbar erkennt auch die Bundesregierung Reformbedarf. »Wenn man das Schengen-System verbessern kann, dann ist das gut und dann soll man es auch tun«, erklärte Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Die Reisefreiheit in Europa dürfe jedoch nicht zur Disposition stehen. Konkrete Reformvorschläge machte er nicht. Noch nebulöser als der FDP-Minister äußerte sich Teschke: »Wir sind in Teilen der Ansicht, dass die Schengen-Instrumente eines Feinschliffs bedürfen.« Was er mit »Feinschliff« gemeint hat, war trotz ND-Nachfrage beim zuständigen Bundesinnenministerium bis Redaktionsschluss nicht zu klären.

Wie Roth und Pelzer befürwortet auch Andrej Hunko von der Linksfraktion im Bundestag offene Grenzen in Europa. Die EU-Binnengrenzen seien durch Schengen jedoch nur scheinbar abgeschafft, meint der Linkspolitiker. Das sogenannte Schengener Informationssystem sei eine »virtuelle Grenze« zur Migrationsabwehr. Das Informationssystem listet Personen auf, die im Schengen-Raum zur Fahndung ausgeschrieben, mit einer Einreisesperre belegt oder als vermisst gelten. In jedem deutschen Bundesland führen jeweils mehrere Dutzend Polizisten aufgrund der Hautfarbe eines Verdächtigen Personenkontrollen durch, so Hunko weiter. Seite 8

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -