Gedämpfte Hoffnung auf »goldene Hände«
Die Grenzöffnung für Arbeitnehmer kommt wohl zu spät, um den Fachkräftemangel im sächsischen Erzgebirge zu lindern
In der »Bärensteiner Einkehr« hat die Grenzöffnung schon zu neuem Leben geführt. Das kleine Lokal in einem Fachwerkhaus direkt am deutsch-tschechischen Grenzübergang hat seit einiger Zeit eine neue Betreiberin: eine 48-jährige Gastwirtin aus Tschechien, die zuvor schon länger in Annaberg-Buchholz gearbeitet hat. Für Bernd Schlegel, den Bürgermeister der Stadt am Erzgebirgskamm, ist das eines von vielen guten Beispielen dafür, dass sich die Nachbarn in Sachsen und Böhmen immer näher kommen. Nach 1990 wurde ein Grenzübergang eröffnet, den inzwischen auch Autos passieren dürfen. Das Abwasser aus dem Ort fließt schon seit fast zwei Jahrzehnten in eine Kläranlage in Tschechien, was Geld für den Bau einer eigenen sparte. Der örtliche Baustoffhändler hat an manchen Tagen mehr tschechische als deutsche Kunden. Und nun wird also auch eine Gaststätte, die zuvor leer stand, von einer Tschechin geführt.
Ab morgen könnten die Nachbarn noch näher zusammenrücken, schließlich wird die Grenze, die hier entlang des Pöhlbachs verläuft und hinter der direkt die tschechische Stadt Vejprty liegt, noch ein wenig durchlässiger. Ab 1. Mai gilt die volle Freizügigkeit in der EU auch für Arbeitnehmer aus acht ost- und mitteleuropäischen Ländern. Als diese am 1. Mai 2004 der Union beitraten, gab es in etlichen Alt-Mitgliedsländern die Sorge vor Billigkonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt: Tschechische, polnische oder ungarische Arbeiter, so die Befürchtung, könnten für Niedriglöhne in Westeuropa anheuern und hiesige Fachkräfte aus dem Job drängen. Um die Ängste zu dämpfen, wurde die Möglichkeit eingeräumt, Arbeiter aus den neuen Mitgliedsstaaten für einen Zeitraum von sieben Jahren nur mit einer speziellen Erlaubnis ins Land zu lassen. Diese Frist ist jetzt abgelaufen.
Im Erzgebirge fürchtet man den Termin nicht mehr, man hat ihn fast herbeigesehnt. Betriebe der Region »können froh sein über jeden Bewerber«, sagt Gerhard Rohde, der Geschäftsführer der Agentur für Arbeit in Annaberg-Buchholz. Im Erzgebirgskreis brummt die Wirtschaft; die Arbeitslosenquote dürfte im Mai auf einen einstelligen Prozentwert sinken. Rund 107 000 Menschen sind in der Industrie tätig, viele davon bei Automobil-Zulieferern; die Unternehmen beliefern unter anderem die sächsischen Filialen von VW, BMW und Porsche.
Wer ins Ausland wollte, ist längst weg
Allerdings gibt es Schattenseiten: Die Menschen, die heute in den erzgebirgischen Betrieben arbeiten, sind oft nicht mehr die Jüngsten. Jeder Dritte ist bereits über 50 Jahre alt und geht in absehbarer Zeit in Rente. Rund 30 000 Arbeitsplätze sind in den nächsten 10 bis 15 Jahren zu besetzen – selbst wenn keine neuen Unternehmen hinzukommen. Zugleich hat sich die Zahl der Schulabgänger seit 2002 halbiert; es gibt inzwischen weit mehr Lehrstellen als Bewerber. Deren Zahl reicht bei weitem nicht, um die Altersabgänge auszugleichen. Wenn die Wirtschaft ihren Schwung behalten soll, »brauchen wir Zuwachs«, sagt Rohde und fügt an: »Eigentlich müssten an den Straßen überall Schilder stehen: Herzlich willkommen!«
Selbst wenn die Aufschrift freilich »Vítáme vás« lautete, werden die fehlenden Fachkräfte wohl, anders als vielerorts erhofft, nicht aus dem Nachbarland kommen. Zwar ist am Südhang des Erzgebirges, wo lange Jahre fast ausschließlich Kohle abgebaut und in Kraftwerken verfeuert wurde, die Arbeitslosigkeit mit 13,1 Prozent noch deutlich höher als in Sachsen, sagt Prokop Sykora, Chef des Arbeitsamtes im Kreis Chomutov. Doch die Hälfte der 9000 Arbeitslosen hat nicht einmal einen Facharbeiterabschluss. Gut ausgebildete Fachkräfte, die bereit waren, im Ausland ihr Glück zu versuchen, sind hingegen längst nach Großbritannien oder Skandinavien gezogen, wo die Hürden für osteuropäische Arbeitnehmer deutlich eher fielen als jetzt in der Bundesrepublik: »Wen das interessiert hat, der ist schon lange weg«, sagt Sykora. Stärkere Pendlerströme über den Erzgebirgskamm erwartet er nicht. In Sachsens Wirtschaft beklagt man inzwischen, man habe die rechtzeitige Grenzöffnung verpasst: »Im Kampf um die besten Köpfe kommt Deutschland zu spät«, sagt Michael Lohse, Präsident der IHK Chemnitz, der mit höchstens 1000 bis 2000 tschechischen Einpendlern rechnet. Gute Facharbeiter, sagt Lohse, seien »längst in Lohn und Brot«.
Lehrlinge aus dem Nachbarland
Die Einschätzung bestätigt Jitka Gavdunova, Bürgermeisterin von Vejprty. Sie dämpft zugleich womöglich noch vorhandene Sorgen vor Billigarbeitern aus Tschechien. »Solche Ängste hätte man vielleicht vor 15 Jahren haben können«, sagt sie, »heute nicht mehr.« Das Lebensniveau in den Nachbarländern hat sich nicht zuletzt aufgrund des kräftigen wirtschaftlichen Wachstums in Tschechien angeglichen; die für ihre sprichwörtlichen »goldenen Hände« bekannten Tschechen verdienten heute auch in ihrer Heimat passable Löhne. Die liegen zwar unter denen in Sachsen; zugleich sind aber Ausgaben für Miete und Lebenshaltung deutlich geringer. Kein Tscheche, sagt Gavdunova, »ist heute noch bereit, zu Sklavenbedingungen unterwegs zu sein«.
In Sachsen muss man sich deshalb inzwischen eher Gedanken machen, wie man die dringend benötigten Fachkräfte auch im Nachbarland anwerben kann. Die Agentur für Arbeit Annaberg-Buchholz veröffentlicht ihre Stellenangebote inzwischen auch in Chomutov und veranstaltet zudem grenzüberschreitende Jobbörsen, so Rohde. Zudem ist man bemüht, die Sprachbarriere abzubauen, die entlang der Grenze noch immer eines der wichtigsten Hindernisse für eine weitere Annäherung ist. Damit eventuelle tschechische Interessenten bei der Arbeitsagentur in Annaberg-Buchholz besser betreut werden können, will diese dortiges Personal einstellen. Kürzlich wurden Ausbildungsplätze ausgeschrieben; von den 39 Bewerbern kamen neun aus Tschechien.
Ähnlich früh beginnt man die Fachkräftewerbung auch andernorts: Die Handwerkskammer Chemnitz lud kürzlich Lehrlinge aus Tschechien ein, um Ausbildungsberufe vorzustellen und Kontakte zu Betrieben anzubahnen. Einige Verträge für eine duale Ausbildung, die es in dieser Form in Tschechien nicht gibt, wurden bereits unterschrieben. Bis zum Beginn des Lehrjahrs sollen die künftigen Azubis nun noch ihr Deutsch aufpolieren. Ohne die Freizügigkeit, betont man bei der Handwerkskammer, wäre eine solche grenzübergreifende Ausbildung wesentlich schwieriger. Und in Bärenstein beginnt man gewissermaßen noch früher, mögliche Fachkräfte anzulocken: Den Kindergarten und die Grundschule besuchten einige Kinder aus Vejprty, sagt Bürgermeister Schlegel. Er kann sich auch vorstellen, dass sie später diesseits der Grenze zur Berufsschule gehen – der Weg von Vejprty nach Annaberg-Buchholz ist schließlich kürzer als in die nächste größere Stadt auf tschechischer Seite.
Sieht man im Erzgebirge der anstehenden endgültigen Grenzöffnung also völlig entspannt entgegen? Nicht ganz, sagt Schlegel. Sorgen bereitet dem Bürgermeister ein einziger Aspekt: Mit dem 1. Mai dürfen sich auch im Dienstleistungsbereich osteuropäische Unternehmen um Aufträge bewerben – zu den Konditionen ihres Herkunftslandes. Vor allem in Branchen wie dem Reinigungsgewerbe oder bei der häuslichen Pflege, wo schon jetzt sehr niedrige Löhne gezahlt werden, befürchten manche eine weitere Abwärtsspirale.
Auch die mittelständischen Baufirmen in der Region »könnten unter Druck geraten«, erklärt Steffen Böttcher von der Kreishandwerkerschaft. Zwar gilt im Baubereich ein Mindestlohn, doch der werde immer wieder unterlaufen, sagt der Hauptgeschäftsführer. Außerdem hätten Löhne nur einen Anteil von 30 Prozent an den Kosten; Versicherungen und andere Faktoren seien in Tschechien womöglich deutlich niedriger. Allerdings räumt Böttcher ein, dass genaue Prognosen derzeit niemand wagt. Ob die Erzgebirgler ihre Häuser künftig von böhmischen Zimmerleuten bauen lassen und ob sächsische Gemeinden ihre Straßen von dortigen Baufirmen flicken lassen, sei noch überhaupt nicht abzusehen: »Genaueres wissen wir in drei Jahren.«
Dreigeteilte Belegschaften
Warnungen kommen auch von den Gewerkschaften. Die Dienstleistungsfreiheit bedeute, dass auch Leiharbeitsfirmen aus Ost- und Mitteleuropa in Deutschland tätig werden können, warnt Sabine Zimmermann, Chefin des DGB in Südwestsachsen, der kürzlich in Bärenstein eine gut besuchte Konferenz zum Thema durchführte. In der Folge könnte es in den Unternehmen gar eine Dreiteilung geben, ergänzt Sachsens DGB-Vize Markus Schlimbach: Arbeite neben der Stammbelegschaft schon jetzt vielerorts eine Mannschaft von Leiharbeitern, könne dazu künftig noch ein Trupp von Leiharbeitern aus Polen, Ungarn oder Tschechien kommen. »Das wird das Einfallstor«, sagt Schlimbach, der auch den für die Zeitarbeitsbranche geschlossenen Tarifvertrag nur bedingt als Abhilfe ansieht: »Ich sehe nicht, dass es ausreichend Personal gibt, um dessen Einhaltung zu kontrollieren.«
Angesichts dessen plädiert der Bärensteiner Bürgermeister Bernd Schlegel für eine einfache Lösung: »Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn könnte verhindern, dass auch bei uns das Lohnniveau weiter sinkt«, sagt der parteilose Kommunalpolitiker, der zugleich nichts davon hält, Ängste vor der Grenzöffnung zu schüren. »Probleme der Globalisierung werden nicht dadurch gelöst, dass man diese aufhält«, sagt Schlegel, »sondern indem man sie gestaltet.«
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