Traumzauberbaum
Mick Jagger der Kinderzimmer
»Mary Lu« hat es gerade noch mal herausgerissen. Der Song vom prägenden Geschichtenlieder-Album »Der Traumzauberbaum« von 1980, das mittlerweile in der dritten Generation aus bunten Kassettenrekordern schallt, war einer der raren Höhepunkte beim Jubiläumsgastspiel des Reinhard Lakomy Ensembles am Sonntag im Admiralspalast.
Lakomy, Erfinder der Zauberbaum-Welt, ist der Mick Jagger der ost- und längst auch der westdeutschen Kinderzimmer. Er übernahm am Sonntag seine angestammte Rolle als Keyboard spielender und von Zeit zu Zeit singender, mürrischer Patriarch mit gewohnt üppiger weißer Mähne. Hauptaufgabe seines hemdsärmeligen Bühnencharakters ist es, drei infantile Waldkobolde zu bändigen. Gilt es doch zu verhindern, dass diese in ihrer liebenswerten Unbesonnenheit Gleichgewicht und Wasserzufuhr des Traumzauberwaldes durcheinander bringen. Jedes Blatt jenes magischen Baumes birgt schließlich einen Traum – mit dazugehörigem Song. Wenn das Wald-Bächlein aber versiegt, gedeihen die Albträume.
Leider jedoch schien es am Sonntag streckenweise, als sei der vierköpfigen bunten Truppe die dramaturgische Fantasie ein wenig versickert. Präsentiert wurde keine Geschichte, sondern eine Art »Best Of« aus den mittlerweile elf Tonträgern für Kinderohren aus der Lakomy-Feder. Das Ergebnis war eine Nummernrevue.
Natürlich brachte auch sie die Kinderaugen zum Leuchten. Zu gut, zu eingängig sind viele der in synthesizer-lastigem 80er-Jahre-Sound verpackten Lieder. Auch die mannigfaltig abgefeuerten (imaginierten) »Glücksraketen«, das Augen rollende Bühnenbild oder mehrere Bühnen-Enterungen durch die Kinder verfehlten ihre euphorisierende Wirkung nicht.
Dennoch – angesichts des teils legendären Ausgangsmaterials wäre eindeutig mehr drin gewesen. Träumerische Magie stellte sich nicht ein. Gänzlich verzichten sollte das Ensemble auf Versuche, »politisch« zu werden. Um die gut abgehangenen Merkel- und Westerwelle-Anspielungen wäre es nicht schade. Kritisch beleuchten muss man auch die pädagogische Botschaft. Präsentiert wird eine zu klare, daher altmodische Rollentrennung der Geschlechter. Vor allem das giggelnd-zickige Barbie-Bild sollte jungen Mädchen lieber nicht als Vorbild dienen. Die wilde Katze »Marie Lu« und andere Traumcharaktere ließen über solche Mankos aber oft hinwegsehen.
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