Furiose Hektik
Paul Holz wird in der Galerie Parterre gedacht
Unter allen künstlerischen Ausdrucksformen ist die Zeichnung wohl die spontanste und älteste. Sie erscheint so einfach – jedes Kind zeichnet –, aber gerade das Andeutende einiger weniger Striche regt die Fantasie des Betrachters an, Gegenstände, Figuren oder Szenen erst zusammenzuschauen und das nicht mehr Präzisierbare einer Vision, Ahnung oder einer Idee zu erspüren.
Zu seinen Lebzeiten war der Zeichner Paul Holz (1883-1938) nur einem kleinen Kreis von Kunstinteressierten bekannt. Der Bauernsohn aus Mecklenburg-Vorpommern war zunächst als Grundschullehrer, dann als Oberschullehrer für den Zeichen- und Kunstunterricht tätig, doch erst abends und an den Wochenenden konnte er das zeichnen, was er wollte, und zeichnend befreite er sich von den übermächtigen Eindrücken und Erinnerungen, die seinen Kopf fast zu sprengen drohten, und schuf gleichzeitig Neues. Er zeichnete zwanghaft, wie besessen, Blatt für Blatt, vieles hat er gleich vernichtet, weniges, was ihm gelungen schien, aufgehoben.
Nicht nach der Natur oder nach dem Modell zeichnete er, sondern aus dem Gedächtnis, aus dem er einmal Gesehenes und sich ihm Eingeprägtes beliebig abrufen konnte. Und er zeichnete vornehmlich mit der Feder und mit schwarzer Tusche, verzichtete auf Farbe und Druckgrafik. Die Feder erlaubt keine Korrekturen, kann ohne Zuhilfenahme eines Pinsels keine Lavierungen, keine malerischen Effekte hervorbringen. »Ich konnte immer nur zeichnen, was mich ergriff, im Innersten ergriff«, bekannte er. So galt sein menschliches Mitgefühl den Außenseitern der Gesellschaft, den Alten und Gebrechlichen, den Geisteskranken, Trinkern, den Landstreichern, Bettlern, Zirkusleuten und Zigeunern, die er in seiner Heimat, aber auch später in Stettin, Breslau und – nach seiner Entlassung und Zwangsversetzung in der NS-Zeit – in Schleswig antraf. Aber das waren keine bloßen Mitleidsstudien, es ging ihm um die Wahrhaftigkeit menschlicher Existenz, die er in der Echtheit und Ursprünglichkeit seiner Figuren verkörpert sah.
In Zusammenarbeit mit der Kunstsammlung der Akademie der Künste in Berlin, die wohl die größte Zahl an Holz-Arbeiten besitzt, zeigt die Galerie Parterre eine Auswahl der schönsten und einprägsamsten Arbeiten auf Papier. Es sind Darstellungen von phrasenloser Realistik, von furioser Hektik, voller Schärfe und bitterem Humor, so »Abdeckerei«, »alter Mann an einem Sarg«, »Ich bin schon fern«, »Der besoffene Schlächter« (Schlachterszenen gibt es nicht wenige), »Der Satan fährt in die Säue«, »Grau, alles Grau wie Gries«, »Adolf sieht eines anderen Menschen Kinn von unten und erschrickt« oder »Sie zanken sich aus Langeweile« (zwei vor einen Kutschwagen gespannte Pferde).
Die Linie scheint ein vitales Eigenleben zu führen. Linien und Linienbündel können die Körperlichkeit unterstützen wie negieren. Starke Kontraste (Flecken, Schwärzen, spontane, heftige Linien) erzeugen eine gesteigerte Ausdruckskraft. Die Trauer, der Schmerz, der Gram der Mutter, die in das offene Grab starrt, sind so intensiv, dass sie den Betrachter gleichsam zum Mitbetroffenen und Mitleidenden machen.
Zeichnend hat sich Holz auch Werken von Eichendorff, Reuter, Dostojewski, Gogol, Tolstoi, Hamsun, Rilke und Döblin, aber auch der Bibel, Heiligenlegenden und volkstümlichen Texten gewidmet. Das sind keine Illustrationen im herkömmlichen Sinne, sondern Holz griff sich – mitunter nur nebensächliche – Motive, Figuren oder Szenen heraus, die seine Fantasie erregten, ihn dazu anregten, etwas wieder zu erkennen, was er liebte. »Uhren, Uhren, hier schöne Uhren«, ruft der ebenso spitzbübische wie gutmütige »Uhrenpapst« aus Knut Hamsuns »Landstreicher«. Er ist über und über mit Uhren behängt, die ihm gleichsam aus den Fingern zu wachsen scheinen.
Auch wenn Holz Literarisches zeichnet, gerät er eigentlich weniger ins Erzählen, sondern gibt eher Einzelfiguren wieder, deren Gefühle und Haltungen er einzufangen sucht. Charakteristisch die Rechts- oder Linksdiagonale, in die er seine Figuren setzt, die gekrümmte Haltung. Mitunter dreht sich die Bewegung von der einen in die andere – entgegengesetzte – Richtung oder der Übergang von der Vertikalen zur Diagonalen geschieht innerhalb ein und derselben Figur, die dadurch gebrochen und destabilisierend wirkt. Die Hände sind meist in heftiger Aktion, die Gesichter in Schattenpartien versunken, sich aufgebend, wenn sie der Schatten des Todes gestreift hat.
Der nervöse Strich, die ruhige, lange Linie, das kraftvolle Verstärken oder verlaufende Erschlaffen können erschüttern wie beglücken. Sie können den Betrachter zum Erkennen dessen führen, wozu der Mensch angelegt ist: nämlich wirklich Mensch zu sein, und durch Anspannung wie Entspannung eine Balance des Menschlichseins zu erreichen.
Bis 15. Mai, Galerie Parterre, Danziger Str. 101, Mi.-So. 14-20 Uhr, Paul-Holz-Monografie von Angelika Förster 14,90 Euro.
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