Die Tasse im Pelz
»Surreale Dinge« in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main
Wer kennt es nicht, das »Frühstücksgedeck in Pelz« (1936), eines der eindringlichsten surrealistischen Objekte, das auch heute nichts von seiner absurden Wirkung verloren hat. Die Schweizer Künstlerin Meret Oppenheim nahm eine Tasse, ein Untertasse und einen Löffel, bezog sie mit Pelz und schuf so ein sich selbst widersprechendes Bild von erstaunlicher Aussagekraft. Es führt ein langes, geheimes Leben als sexuelles Symbol. Wenn man sich vorgestellt, das behaarte Gefäß mit einer warmen Flüssigkeit an die Lippen zu setzen, wird die Tasse zu einem Objekt animalischer Begierde, das zugleich anzieht und abstößt, fasziniert und irritiert, Lust und Schrecken, Heiterkeit und dunkle Ängste gleichermaßen hervorruft.
Mit etwa 180 dreidimensionalen Werken von 51 Künstlern führt die Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main – erstmals in dieser ausschließlichen medialen Konzentration – surreale Objekte und Skulpturen vor, die vornehmlich in den 1930er Jahren entstanden. Was nicht überliefert worden ist, wird in Fotografien gezeigt.
Eigentlich war das Objekt der Surrealisten eine dreidimensionale Collage. Mit der Collage, wie sie Picasso und Braque schon seit 1912 handhabten, hielt kunstfremdes Material Einzug in die Kunst. Und mit den gefundenen Objekten, den so genannten »Ready-mades« von Marcel Duchamp, gewann die Kunst einen Objekt-Charakter, den sie nun schon fast ein Jahrhundert in immer wieder andersartiger Weise und unterschiedlicher Intensität zur Schau trägt und stellt.
Salvador Dalís surrealistische Objekte bauen durch ihre mehrschichtigen Interpretationen eine sowohl seltsam anziehende wie abstoßende Beziehung zum Betrachter auf. Das »Hummer- oder aphrodisische Telefon« (1936), auf dem bedrohlich ein rotgekochter Hummer mit scharfen Scheren als Telefonhörer ruht, verbindet erotische, traumhafte und konkret real fassbare Elemente miteinander. Angeregt von Sigmund Freud wollte Dali in seiner »Venus von Milo mit Schubladen« (1936/64) einen Körper (mit Schubladen) gestalten, der »die christliche Erfindung der Gewissensbisse noch nicht gekannt hat«.
Oscar Dominguez produzierte einen mit schwülstig roten Satinpolstern ausgeschlagenen und so zum bequemen Armsessel umfunktionierten Schubkarren – er gab ihm den Titel »Fauteuil« (1937) – für Salons der Pariser Gesellschaft. Man Ray fotografierte damals den Sessel mit einem Mannequin in einem Abendkleid des Modeschöpfers Lucien Lelong. Die Faszination des Zwiespältigen von Puppen, Mannequins, überhaupt von künstlichen, doch menschenähnlichen Wesen tritt in der Objektkunst des Surrealismus immer wieder in Erscheinung. Als Beispiel einer aktionistischen Antikunst gegen die bürgerliche Kultur kann der »Wildgewordene Spießer Heartfield« (1920) von George Grosz und John Heartfield gelten, eine Kombination von Schneiderpuppe und Tischlampe. Die Glühbirne anstelle des Kopfes deutet auf Manipulierbarkeit hin: das Gehirn kann nach Belieben an- und ausgeschaltet werden.
Es gab weibliche Möbelstücke in der surrealistischen Kunst, aber keine männlichen Stühle oder Tische: Dalís Sofa, den Lippen der Hollywood-Diva Mae West nachgeformt, oder Kurt Seligmanns, »Ultra-Möbel« (1938), ein Hocker, dessen vier Beine Mannequinbeine sind. In Hans Bellmers Arbeiten fand die sadistische Bilderwelt der surrealistischen Kunst ihren Höhepunkt. Er schuf eine Gliederpuppe mit Kugelgelenken, die er einfach »Die Puppe« nannte. Man konnte ihre Glieder biegen, verrenken oder austauschen, das machte sie zu einem hervorragenden Bildträger für sexuelle Fantasien von Vergewaltigung und Brutalität. Das manipulierbare, willfährige Aussehen der Puppe war die Summe all dessen, was sich Surrealisten unter der Frau als »schönem Opfer« vorstellten.
Der Surrealismus hat eine ausgesprochene Vorliebe für den Akt des Verhüllens und für das Verhüllte, wodurch man den Gegenstand dem Blick und Zugriff entziehen konnte. Gleichzeitig wird er selbst der Möglichkeit beraubt, seine ursprünglichen Funktionen zu erfüllen. Man Ray schuf das geheimnisvolle Objekt »Das Rätsel von Isidore Ducasse« (1920), das aus einer Nähmaschine bestehen könnte, in eine Decke eingewickelt, verschnürt mit einem Seil .
Isidore Ducasse ist der bürgerliche Name des Dichters Lautréamont, von dem man kein einziges authentisches Porträt und nur vage Beschreibungen seines Äußeren kannte. Das nachlässig verschnürte Bündel sollte der deutenden Fantasie alle Freiheit gewähren. Ansteckend in dessen Lyrik wirkte auch die überraschend kühne Verknüpfung von Unangemessenem, ja Unvereinbarem, eine Verknüpfung, die dank der spezifisch visuellen Vorstellungskraft Lautréamonts sich direkt in Malerei oder in Objekte umsetzen ließ. Auf des Dichters Sprachbild »Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Seziertisch« spielt Man Ray in seinem Werk an.
Der surrealistischen Vorstellung des »poetischen Objekts« entsprechen die delikaten Assemblagen, die der Amerikaner Joseph Cornell in schreinartige Kästen einbaute. Mit sehr einfachen Mitteln gelang ihm eine Synthese aus der illusionistischen surrealistischen Malerei und der scheinbaren Festigkeit des surrealistischen Objektes. Er benutzte dazu den Theatereffekt: »Die vierte Wand« bestand aus Glas, so konnte man wie auf einer Miniaturbühne alles sehen, was drinnen vor sich ging. Seine Kästen erinnerten nicht nur an Theater, sondern auch an Naturalienkabinette, Archive, in denen die Alltagswelt keinen Zutritt hat und in der zerbrechliche, exotische oder kostbare Stücke der wirklichen Welt unter Glas in Gruppen so ausgestellt werden, dass ihre Anordnung auf größere Zusammenhänge außerhalb des »Rahmens« schließen lässt.
Als eines der beunruhigendsten Objekte wirkt jenes, das 1934 von Giacometti trotz seines figurativen Charakters als »Der unsichtbare Gegenstand« bezeichnet wurde. Eine Frau mit dem Kopf eines primitiven Götzenbildes steht an eine hohe viereckige Tafel gelehnt. Sie hat etwas Sprechendes im Blick, und in ihren ausgestreckten Händen hält sie das »Objekt«, das nur sie selbst sieht. Nach dem biblischen Propheten des Alten Testaments »Habakuk« hat Max Ernst 1934, ein Jahr nach Hitlers Machtergreifung, seine vogelähnliche Figur mit einem abstrahiert modellierten Kopf genannt. Zwei Jahre später richtete er den Blick der Figur, statt nach unten gekehrt – in schweigender Ohnmacht –, nach oben, signalisierte nun Hoffnung angesichts akuter Weltbedrohung.
Obwohl der Surrealismus als Kunstbewegung schon lange vor 1966, dem Todesjahr seines »Anführers« Breton, zu Ende gegangen war, hinterließ er einen reichen Schatz an Ideen für Künstler der folgenden Jahrzehnte.
Surreale Dinge – Skulpturen und Objekte von Dali bis Man Ray. Schirn Kunsthalle Frankfurt, bis 29. Mai. Katalog.
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