Nazis geraten am Kreuzberger U-Bahnhof außer Kontrolle
Aufmarsch von Rechtsextremen konnte trotz Ausbruchsversuchs verhindert werden / Kritik an Geheimhaltungstaktik der Polizei
Bei einem rechtsextremen Aufmarsch kam es am Samstag in Kreuzberg zu Ausschreitungen. Am U-Bahnhof Mehringdamm griffen Neonazis zahlreiche Passanten und Gegendemonstranten an, die Polizei verlor zwischenzeitlich die Kontrolle über die Situation. Augenzeugen berichteten von einer extrem gewaltbereiten Stimmung unter den Rechtsextremen und äußerten Unverständnis über das Vorgehen der Polizei.
Der Aufmarsch war erst 24 Stunden zuvor bekannt geworden. Die rechte Szene hatte bundesweit heimlich mobilisiert und auch die Berliner Polizei hatte die Kundgebung und die zugehörige Route geheim gehalten. Erst als am Freitag ein Nazi auf Facebook im Internet die geplante Aktion ausplauderte, begann ein Bündnis aus Antifaschistische Linke Berlin (ALB), ver.di und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN/BdA) eine Gegendemonstration zu organisieren.
Auf der Höhe des Finanzamtes am U-Bahnhof Mehringdamm hatten sich die Rechtsextremen gegen 12 Uhr gesammelt. »Es hat keine 15 Minuten gedauert, bis die ersten Gegendemonstranten eintrafen«, berichtet Lars Laumeyer von der ALB. »Das hat sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer.« Laut Polizei standen am Mittag etwa 110 Rechtsextreme rund 500 Gegendemonstranten gegenüber, die ALB sprach gar von 800 Antifaschisten. Der von den Nazis geplante Zug durch Kreuzberg konnte durch die Proteste verhindert werden.
Nach einer Stunde wurde der Aufmarsch von dessen Anmelder Sebastian Schmidtke aufgelöst, ohne dass sich der Kundgebungszug in Bewegung gesetzt hatte. Zuvor war es zu Krawallen gekommen. Die Rechtsextremen hatten die Polizei mit einem plötzlichen Ausbruch überrascht und waren in den U-Bahnhof gestürmt, wo sie laut Berichten des »Tagesspiegels« Jagd auf Migranten machten. Als sie den Bahnhof durch den anderen Ausgang verließen, fielen sie den Gegendemonstranten in den Rücken. »Sie haben sofort wahllos auf die Leute eingeprügelt und ihre Parolen geschrien«, erzählt eine Augenzeugin. »Das war extrem gruselig.« Insgesamt nahmen die über 600 Polizisten 46 Personen vorläufig fest und führten 37 Freiheitsbeschränkungen durch. 36 Polizisten wurden verletzt. Laumeyer sprach von 30 Verletzten Demonstranten, davon fünf schwer Verletzte.
Antifaschistische Gruppen, Opferberatungsstellen und Politiker kritisierten die Informationspolitik der Senatsinnenverwaltung und der Polizei. »Es ist ein politischer Skandal, wenn die Berliner Polizei Informationen über einen angemeldeten Nazi-Aufmarsch zurückhält«, so Katrin Schmidberger vom Kreisverband der Grünen Friedrichshain-Kreuzberg. »Ich halte es für gefährlich, Bezirke, in denen viele Migranten leben, nicht zu warnen.« Ein aktives Eingreifen der Zivilgesellschaft dürfe nicht verhindert werden, nur um Gegendemonstrationen aus dem Weg zu gehen. Auch Laumeyer findet: »Wo Faschisten auf die Straße gehen, muss es Proteste geben. Das sollte in einer Demokratie gewollt sein.«
Bianca Klose, Leiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, hofft indes auf »eine politische Nachbereitung der Gewaltexzesse«. Es müsse geklärt werden, warum selbst der Bezirksbürgermeister Franz Schulz nichts von dem Aufmarsch wusste.
SPD, LINKE und Grüne kündigten an, den Vorfall in den Parlamentsausschüssen zu untersuchen. Der Fraktionschef der LINKEN, Udo Wolf, sagte, dabei müsse besonderes Augenmerk auf die Einsatztaktik der Polizei gelegt werden. Schmidberger (Grüne) regte an, die Geheimhaltung von Versammlungen gesetzlich zu verbieten. Innensenator Ehrhart Körting (SPD) verurteilte »das erschreckende Maß an brutaler Gewalt« der Rechtsextremisten und kündigte Konsequenzen an.
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