Kiez-Tanke an der Reeperbahn droht Abriss

Seit 50 Jahren treffen hier Kiez-Größen, Prominente und ganz normale Menschen aufeinander

  • Jenny Tobien, dpa
  • Lesedauer: 3 Min.
Seit fast 50 Jahren ist sie Anlaufstelle für Zuhälter, Prostituierte, Kiez-Größen, Nachtschwärmer und Nachbarn auf St. Pauli. Nun droht der legendären »Tanke« am Rande der Hamburger Reeperbahn das Aus.

Zuhälter lassen in der Waschstraße ihre Karossen auf Hochglanz polieren, Nachtschwärmer decken sich im Shop mit Alkohol ein und die »leichten Mädchen« kaufen frühmorgens nach getaner Arbeit noch ein paar Brötchen fürs Frühstück. In der wohl bekanntesten Tankstelle Deutschlands mitten auf dem Hamburger Kiez treffen rund um die Uhr Kiez-Größen, Promis, Theaterbesucher, feierwütige Jugendliche und die normale Nachbarschaft aufeinander. »Wir sind quasi der Dorfplatz von St. Pauli«, sagt der Junior-Chef der Esso-Tankstelle an der Reeperbahn, Lars Schütze. Nach fast 50 Jahren wird die berühmteste Zapfstation des Landes nun womöglich einem Neubauprojekt weichen. Ein Gutachten legt dies zumindest nahe.

»Das wird alles Schickimicki«, sagt Thomas, der seit 15 Jahren in der Tanke arbeitet. Bei Nieselregen hat er sich mit ein paar Kollegen zur Zigarettenpause zurückgezogen. Überrascht habe die Nachricht niemanden mehr. »Die Wehmut ist schon lange vorbei.« St. Pauli sei nicht mehr das Viertel, das es einmal war. Alteingesessene Geschäfte müssten dichtmachen, damit Luxuswohnungen gebaut werden könnten.

Ein bisschen Wehmut macht sich dann aber doch breit, als die Jungs ins Erzählen kommen. Das sei der alltägliche Wahnsinn hier, sagt Tankwart Okan (24). »Wir haben alles schon gehabt: Nackte, Bewaffnete, Bekloppte.« Menschlich und familiär gehe es aber meist zu. Die Klientel sei bunt und vielfältig – bekannte Kiez-Größen, die niemand beim Namen nennen will, schauten immer wieder vorbei. Aber auch Promis wie Freddy Quinn, Udo Lindenberg oder Tim Mälzer.

Dank diverser TV-Dokumentationen und eines Theaterstücks erlangte die Tanke inzwischen selbst Berühmtheit. Touristen erhoffen sich hier Einblick ins wahre Kiezleben und auch Drag-Queen Olivia Jones macht auf ihren Reeperbahn-Touren regelmäßig Station an der Station. Der ganze Medien-Hype habe eher geschadet, meint Okan, der in St. Pauli aufgewachsen ist. »Die Stimmung ist aggressiver geworden.« Um den Andrang des Party-Publikums in den Griff zu bekommen, wird an den Wochenenden zusätzlich ein Sicherheitsdienst eingesetzt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnete Schützes Großvater eine Tankstelle. 1962 zog der Betrieb an den jetzigen Standort am Spielbudenplatz. Der Vater verkaufte das Grundstück 2009 an die Bayerische Hausbau (BHG). Seitdem wird über einen Abriss der Tankstelle und der beiden benachbarten Wohnblöcke spekuliert. Eine endgültige Entscheidung sei noch nicht gefallen, betonte BHG-Sprecherin Sabine Hagn kürzlich. Doch ein Gutachten habe ergeben, dass eine Sanierung der Häuser aus technischen Gründen mit einem Auszug der Mieter verbunden sei. Deshalb »erachten wir einen Abbruch der Gebäude und die Schaffung von zusätzlichem Wohnraum als sinnvoll«. Angestrebt werde eine Mischung aus sozial geförderten und Eigentumswohnungen.

Laut einem Pressebericht läuft der Pachtvertrag der Tankstelle nächstes Jahr aus. Ein neues Bauprojekt wird laut BHG aber nicht vor 2014 starten. Juniorchef Schütze zeigt sich gelassen: »Noch gibt es uns.« Und selbst wenn sich das mal ändern sollte: Er wolle St. Pauli treu bleiben. Und Tankwart Okan, der seit seinem 16. Lebensjahr an der Zapfsäule steht? Der hat bereits gekündigt und will sich jetzt selbstständig machen.

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