Irgendwer macht das schon?
Der Neonazi-Aufmarsch in Kreuzberg hat auch Mobilisierungsschwächen der Gegner gezeigt
Am Sonnabend hielten in Berlin etwa 100 Neonazis zwei Stunden lang um sich prügelnd und Böller werfend eine Veranstaltung ab. Die Antifaschistische Linke Berlin feiert die Blockade als erfolgreichen Widerstand, da die Nazis entgegen ihren Plänen keine Demonstration durchführen konnten. Dennoch bleibt ein bitterer Beigeschmack. Denn es waren insgesamt doch recht wenige, die sich den Nazis entgegenstellten – im linken, migrantischen Bezirk Kreuzberg, schräg gegenüber vom Mehringhof, der seit dreißig Jahren ein wichtiger Ort linker Politik in Berlin ist. Nicht einmal 1000 kamen.
Das war im Mai 2007 anders. Als der damalige Bundesinnenminister Schäuble vor dem G8-Gipfel in Heiligendamm nach dem Rasenmäherprinzip zahlreiche Objekte durchsuchen ließ, fand zehn Stunden später in Kreuzberg eine Demonstration mit mehreren tausend Teilnehmern statt. Am Sonnabend war die Vorlaufzeit doppelt so lang: 20 Stunden bevor die Nazis im U-Bahnhof Mehringdamm auf Passanten einschlugen, während oben auf der Straße die Polizei auf linke Gegendemonstranten einprügelte, wurden unzählige Mails und SMS mit dem Aufruf zum Protest verschickt. Das Ergebnis der Hauruck-Mobilisierung waren gerade 800 Gegendemonstranten. Der übermäßig harte Polizeieinsatz gegen linke Demonstranten hätte bei einer größeren Beteiligung von Nazi-Gegnern so nicht stattgefunden. Fast möchte man sagen: Diejenigen, die sich den Nazis in den Weg stellten, waren die Dummen. Die Situation war weitaus gefährlicher für Leib und Leben der Beteiligten, als es für viele den Anschein hatte.
Die geringe Beteiligung spiegelt eine zunehmende Ignoranz gegenüber Neonazi-Aufmärschen wider. Viele denken inzwischen, irgendwer macht das schon. Dabei konnte man aus den erfolgreichen Blockaden in Dresden eines lernen: Auf die Breite und Entschlossenheit des Protestes kommt es an. Das sollte nicht nur eine Rolle spielen bei Großveranstaltungen wie in Dresden, für die sich die Interessierten dann noch im letzten Moment um die Bustickets streiten. Das gilt auch am Sonnabendmittag in Kreuzberg, wenn viele ausschlafen wollen oder sonstwas zu tun haben und die Vorlaufzeit kurz ist. Der Spuk vom Sonnabend könnte sich sonst in ähnlicher Form wiederholen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.