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Erinnerung verätzt von Schwaden der Zerstörung
Der in Bad Freienwalde geborene jüdische Arzt Hans Keilson schrieb mit 101 Jahren seine Autobiografie
Sein Geburtshaus steht noch da, direkt am Marktplatz. Frischen Spargel gibt es gerade, aus dem Oderbruch. Auch der Schriftsteller Hans Keilson war als Kind häufig mit seinen Kameraden dort, er musste ja bloß vor die Haustür. »Der Marktplatz war das erste Gebiet unserer Spiele«, schreibt er. Auch ging es mal raus ins Grüne mit dem Rad. Im Winter liefen die Kinder auf der vereisten Oder Schlittschuh.
Über ein Jahrhundert ist es her, dass Hans Keilson in Bad Freienwalde (Märkisch-Oderland) geboren wurde. Jetzt legt der berühmte Arzt und Schriftsteller (»Das Leben geht weiter«) seine Autobiografie vor, mit 101 Jahren. »Da steht mein Haus« heißen die Erinnerungen an ein bewegtes Leben, das am 12. Dezember 1909 in der Kurstadt gut 50 Kilometer nordöstlich von Berlin begann. Der Idylle folgten bald bitterste Erfahrungen: »Mein Leben und meine Erinnerungen sind verätzt von den Schwaden der Zerstörung«, muss der jüdische Autor bilanzieren.
Keilsons Eltern wurden von den Nazis deportiert und in Auschwitz ermordet. Der Sohn überlebte den Holocaust, weil er schon 1936 in die Niederlande emigriert war. Während der deutschen Besatzung bewahrten ihn fließendes Holländisch, gefälschte Papiere und gute Freunde davor, von den Nazi-Schergen entdeckt zu werden. In den späten Kriegsjahren beobachtete er abends aus dem Fenster, wie alliierte Bomber Angriffe auf das Ruhrgebiet flogen.
Keilson kehrte bis heute nicht aus dem Exil zurück. Er wohnt mit seiner Frau in Bussum bei Amsterdam. Aber er kommt oft zu Besuch nach Bad Freienwalde. »Die Landschaft, in der man geboren und aufgewachsen ist, kann man nicht hassen«, schreibt er. Bürgermeister Ralf Lehmann (parteilos) berichtet von »engen, freundschaftlichen Kontakten« zu dem berühmten Sohn der Stadt.
Zu Keilsons bekanntesten Veröffentlichungen zählen »Komödie in Moll« und »Der Tod des Widersachers«. Als Arzt behandelte er jüdische Waisen, deren Eltern von den Faschisten umgebracht wurden. Sein Werk über deren Traumatisierung gilt als Standardwerk der Psychotherapie. Der große Ruhm kommt aber erst jetzt, im hohen Alter. Keilsons Werke werden neu aufgelegt, in viele Sprachen übersetzt. Die »New York Times« hob ihn gar auf die Titelseite und nannte ihn ein Genie.
In Bad Freienwalde war Hans Keilson lange Zeit fast vergessen. Er teilte dieses Schicksal mit den anderen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, die es jahrhundertelang in der Stadt gegeben hatte. In seiner Autobiografie berichtet der Autor von den hohen Feiertagen, den Gottesdiensten in der Synagoge in der Neuen Bergstraße. 1938 wurde die Synagoge von den Nazis in Brand gesteckt, die Juden wurden später deportiert. Anfang 1990 wurde Keilson Ehrenbürger von Bad Freienwalde. Neulich, zu seinem 100. Geburtstag, ließ die Stadtverwaltung eine Gedenktafel an seinem Geburtshaus in der Uchtenhagenstraße anbringen. An das Schicksal der jüdischen Gemeinde wird jedes Jahr am 9. November mit einer Gedenkstunde erinnert. Und bald soll auf dem Platz der ehemaligen Synagoge ein Gebetshaus errichtet werden. »Wir haben die Verpflichtung, uns an die Historie unserer Stadt zu erinnern«, sagt Bürgermeister Lehmann. Hans Keilsons Autobiografie wolle er sehr bald lesen.
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