Grandseigneur und Nestbeschmutzer

»Vereinigte Staaten von Amnesia« vereint Leckerbissen aus Gore Vidals scharfzüngigem Lebenswerk

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Der 85. Geburtstag des US-Schriftstellers, Essayisten und Polemikers Gore Vidal war für Stefan Dornuf Anlass, ein Lesebuch mit Leckerbissen aus dem Werk dieses Elder Statesman der US-Literatur, dieses agent provovateur der Wirtschafts- und Finanzmacht, dieses Kenners der Kaste herauszugeben, bei der die Fäden zusammenlaufen. Vidal sagt von sich, dass er sich »im Maschinenraum der Macht auskenne«. Er ist Spross aus der alten Oberschicht und entstammt einer Politikerfamilie mit Beziehungen zum Kennedy-Clan. Jackie Kennedy ist seine Stiefschwester, Ex-Präsident Carter ebenso ein Großcousin wie Clintons Vize Al Gore. Er kennt und kannte viele, auch Franklin Delano Roosevelt und Eleanor, die weit mehr als nur schmückende Frau an dessen Seite war.

Vidal ist ein Paradiesvogel. Schräg und schrill, elitär und provokant, hedonistisch und aufklärerisch – ein legitimer Nachfolger Oscar Wildes. Bisweilen eine Zumutung für Freund und Feind. Eine Institution. Ein Michael Moore aus der Aristokratie. Ein Schwuler, der 24 Romane und 6 Theaterstücke, Filmdrehbücher, Kurzgeschichten und – ganz gewiss seine größte Stärke – jede Menge Essays und Polemiken geschrieben und sich den Ruf eines politischen Nestbeschmutzers redlich verdient hat. »Ich bin ein echter Protestant. Ich protestiere gegen die Ignoranz. Das ist meine unpopuläre Rolle«, hat der Altmeister dem Verfasser dieser Zeilen vor einigen Jahren beim Interview in Berlin erklärt. Es ist keine Übertreibung.

Da Vidal im deutschen Sprachraum bis heute recht wenig gelesen wird, ist der Sammelband mit seiner Zeitreise durch das Schaffen des Künstlers, der zeitweise Politiker war, doppelt zu begrüßen. Weder Marxist noch Mitglied der KP gewesen, bringt Vidal Argumente und Akzente in die Gesellschaftsdebatte, die so sonst von kaum einem anderen Beobachter zu hören sind. Seine Heimat und deren politisches System hält er für »das korrupteste auf Erden« und leitet auch daraus die Aufklärungsaufgabe für sich ab: »Ich sehe meine Herausforderung darin, Menschen klar zu machen, warum etwas geschieht. Amerika ist ein Land, in dem jeder von klein auf angehalten wird, niemals nach dem Warum zu fragen.«

Die auch daraus entstehende Vergesslichkeit, Verdrängung und Vertuschung von Hintergründen und Interessen veranlassen Gore Vidal, die Vereinigten Staaten von Amerika als die Vereinigten Staaten des Gedächtnisschwunds zu bezeichnen – die United States of Amnesia. Er ist einer der schärfsten Kritiker amerikanischer Selbstgefälligkeit, Großmäuligkeit und Scheinheiligkeit. Für ihn ist sicher: Auch der Mächtigste kann nicht im Frieden leben, wenn er nicht den Frieden anderswo befördert. Beim Amtsantritt zu dessen 4. Präsidentschaft (1944) zitiert Vidal in seinem Roman »Das goldene Zeitalter« Präsident Roosevelt: »Wir können nicht allein in Frieden leben ... unser Wohlergehen hängt vom Wohlergehen anderer, weit von uns entfernt lebender Nationen ab.« Roosevelt führt bei gleicher Gelegenheit den US-Dichter Emerson (1803 – 1882) mit einem prophetischen Gedanken an: »Einen Freund kann nur haben, wer einer ist.«

»Das goldene Zeitalter« schloss seinerzeit einen Zyklus ab, mit dem Vidal wichtige Geschichtsstationen seines Landes zu erfassen suchte: Romane über Lincoln, 100 Jahre amerikanische Unabhängigkeit, über Hollywood und Washington D.C., wobei die beiden letzteren nach Vidals Erfahrungen wenn nicht austausch-, so ergänzbar sind. Gegenüber der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« sagte er, die amerikanische Bevölkerung wolle keine Kriege. »Die Führung der Vereinigten Staaten, die Eigentümer dieses Landes müssen jedoch Kriege führen, sonst bekommen sie nicht das nötige Geld für das Pentagon, Summen, die dann an Boeing und Lockheed weitergereicht werden. Es ist also sehr wichtig, dass wir Feinde haben. Deshalb erschaffen wir immer wieder neue. Das amerikanische Volk weiß dagegen nicht einmal, wo die entsprechenden Länder auf der Landkarte liegen ...«

Die United States of Amnesia als solche zu titulieren hatte für Vidal mit fortschreitender Unduldsamkeit seinen Preis: Er wurde verlegerisch gemieden, als quasi Durchgeknallter abgestempelt oder bloß belächelt. Von seiner Nestbeschmutzer-Haltung hat den Grandseigneur das nicht abgebracht. »Die echte Provokation besteht darin, unabhängig zu sein.«

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