Kinder doch wichtiger als Zigaretten
Studie widerlegt die Mär von Hartz-IV-Eltern, die das Geld ihrer Sprösslinge verprassen
Nach dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Februar 2010 weigerte sich Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) standhaft, über eine Regelsatzerhöhung für Kinder auch nur zu diskutieren. Das Geld solle direkt bei den Kindern ankommen, so von der Leyen. Da schwang der Vorwurf mit, Mama und Papa würden das Geld anderweitig verprassen. Direkte Folge dieser Politik des Misstrauens ist das sogenannte Bildungspaket. Seit Ende März können Eltern per Formular Zuschüsse beantragen – etwa für ein warmes Mittagessen, Nachhilfe oder Musikunterricht. Das bürokratische Monstrum erweist sich als großer Flop: Nicht einmal zwei Prozent aller anspruchsberechtigten Kinder erhielten im April Leistungen aus dem Paket. Der Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete Frank Steffel glaubt zu wissen, warum: Bildungsgutscheine »lassen sich eben nicht versaufen und verrauchen«, so Steffel gegenüber einer Berliner Boulevardzeitung .
Da hilft es auch nichts, wenn Fachleute aus der Praxis immer wieder betonen, dass die meisten Hartz-IV-Eltern verantwortungsvoll mit ihrem Geld umgehen. Bislang fehlte ihnen jedoch eine größere Studie, auf die sie sich berufen konnten.
Die liegt nun vor: Das Diakonische Werk Braunschweig und die Stiftung Braunschweiger Kulturbesitz hatten die wohl umfangreichste Untersuchung auf kommunaler Ebene zum Thema Familienarmut in Auftrag gegeben. Dafür wurden mehr als 300 betroffene Familien im Großraum Braunschweig befragt. Die nun veröffentlichten Ergebnisse widerlegen die Argumentation der sozialen Brandstifter vom Schlage eines Frank Steffel.
Demnach sparen die Eltern zuletzt bei ihren Kindern, wie der Braunschweiger Diakonie-Direktor Lothar Stempin betont. Stempin weiß auch, warum die Leistungen des Bildungspakets bislang kaum abgefragt wurden: »Wenn richtige Ansätze im Gewand des Misstrauens daherkommen, ist die Zurückhaltung der Betroffenen nachvollziehbar.« Die Fehler liegen offenbar weniger bei den Eltern als im System: So besuchen zehn Prozent der Kinder aus Familien mit geringem Einkommen weiterführende Schulen »unterhalb des Niveaus der Empfehlung ihrer Grundschule«, wie es in der Studie heißt. Jedes zehnte arme Kind bleibt also unter seinen Möglichkeiten.
Wie die Studie belegt, machen die betroffenen Haushalte bei Kleidung oder Unterhaltung große Abstriche. Rund ein Viertel der Familien spart zwar auch bei den Kindern, falls das Geld knapp wird. Jedoch nicht so stark wie in anderen Bereichen. Im Zweifelsfall kommen die Kinder also vor Alkohol und Zigaretten. Hartz-IV-Bezieher sind also doch keine Rabeneltern.
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