Wird Verfolgung verharmlost?

Rehabilitation der nach 1945 verurteilten Homosexuellen nicht in Sicht

  • Lesedauer: 3 Min.
Jens Dobler ist Archivleiter des Schwulen Museums Berlin. Er kämpft für die Rehabilitation verurteilter Schwuler.
Jens Dobler ist Archivleiter des Schwulen Museums Berlin. Er kämpft für die Rehabilitation verurteilter Schwuler.

ND: Schwule und Lesben wurden im Nationalsozialismus verfolgt und planmäßig ermordet. Vielen ist unbekannt, dass sie auch nach 1945 aufgrund des § 175 verurteilt wurden. Wie viele Menschen traf das Gesetz?
Dobler: In der BRD gab es bis 1969 ungefähr 45 000 Verurteilte. Zahlen für die DDR liegen nicht vor. Hier ist auch die Quellensuche noch nicht abgeschlossen. Es gab dort aber wesentlich weniger Verurteilungen als in der BRD.

Erst 1994 ist der Paragraf im Zuge der Rechtsangleichung gekippt worden. In der DDR fiel er allerdings schon früher.
Der § 175 wurde 1968 in der DDR zunächst reformiert, schon seit 1949 bestand dort eine mildere Fassung. 1988 entschied die Volkskammer, ihn vollständig abzuschaffen. Während der Wiedervereinigung herrschte dann ungleiches Recht: In der ehemaligen DDR war offiziell erlaubt, was im Westen bestraft wurde. 1994 hat man dann die Angleichung vollzogen und den Paragrafen in ganz Deutschland abgeschafft.

Warum hielt man im Westen so lange am Paragrafen fest?
Das hat mit der Geschichte der BRD zu tun. Ab 1945 waren die Katholiken an der Macht, Adenauer und seine Clique. Auch in der Polizei und im Justizapparat saßen noch alte Nazis. Es hatte schlicht keinen Gesinnungswechsel gegeben.

Heute geht es um die Rehabilitation verurteilter Homosexueller. Wie ist der aktuelle Stand der Diskussion?
Der Senat von Berlin ist aufgefordert, eine Gesetzesvorlage zur Rehabilitation zu erstellen. Der für die Ausarbeitung zuständige Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen hatte darum am 17. Mai mich und andere Fachleute zu einem Symposium geladen. Auch auf Bundesebene gibt es mehrere Initiativen. Im letzten Jahr hat zum Beispiel die LINKE einen Antrag im Bundestag eingebracht. Auch die Grünen haben einen Antrag gestellt.

Für uns war es wichtig, dass eine nachträgliche Aufhebung des Paragrafen und eine Entschädigung unabhängig voneinander durchgesetzt werden. Der § 175 muss in all seinen Fassungen von 1949 bis 1994 aufgehoben werden.

Wie wichtig ist die Anerkennung der unrechtmäßigen Verfolgung auf der symbolischen Ebene?
Das ist das Wichtigste. Die Leute müssen verstehen, dass diese Urteile Fehlurteile waren. Die Rücknahme des Paragrafen wäre ein erster Schritt, den Verurteilten ihre Würde wiederzugeben. Danach könnte man schauen, wer sich aufgrund der damaligen Gesetzgebung in einer prekären Situation befindet. Viele mussten ja aufgrund der Haft oder wegen der Vorstrafen ihr Berufsleben unterbrechen oder konnten keine Rentenzahlungen leisten.

Auf welche Widerstände stoßen Sie?
Zum Beispiel auf juristische. Der § 175 ist in der BRD 1957 vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß eingestuft worden. Demnach könne der Bundestag nachträglich keine Verurteilungen aufheben. Dazu gibt es aber unterschiedliche Ansichten. Experten sagen, dass eine Aufhebung möglich ist. Zum zweiten sehen alle rot, wenn es um finanzielle Ansprüche geht. Und dann wird sich gesperrt. Es heißt, dass früher die Sittenauffassung eben rigider gewesen sei, und warum sollten jetzt, wo der Paragraf doch abgeschafft ist, auch noch die Opfer entschädigt werden? Die Verfolgung Homosexueller wird verharmlost, ganz so, als wäre nichts Schlimmes passiert.

Fragen: Sonja Vogel

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

- Anzeige -
- Anzeige -