Es gibt nur Erfahrung und Hoffnung

Die Volksbühnen-Schauspielerin Silvia Rieger über ihre Regiearbeit bei Brechts »Mutter«

  • Lesedauer: 4 Min.
Sie ist der Manierismus-Motor an Frank Castorfs Volksbühne. Silvia Rieger vereint in ihrem Spiel kalte Schneeköniginnen-Schönheit mit großer gauklerischer Kraft. Sie macht, in welcher Inszenierung auch immer, den Eindruck einer unbedingt fremd Bleibenden; federnd wildert sie durch alle Konvention, getrieben von sehr strengem Formwillen. Wille, der zum Bizarren drängt, ins tönend Dissonante. Sie hat Lust am störend harten Ton – so wird Ereignis, wenn sie in Momente der Erschütterung stürzt. Um metallener denn je ihre ganz eigene herbe Grazie zu entfalten. hds
Silvia Rieger als »Mutter«
Silvia Rieger als »Mutter«

Silvia Rieger, Sie arbeiten schon lange an der Volksbühne, als Schauspielerin, waren und sind in großen Inszenierungen Castorfs beschäftigt. Warum Regie?
Rieger: Ein Stoff fasziniert mich, springt mich an, das ist auch Zufall, dann aber fängt das Denken an und lässt mich nicht mehr los.

»Faust II« machten Sie allein mit dem kürzlich verstorbenen Michael Klobe. Dann kamen »Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar«, »Pastor Ephraim Magnus« und jetzt »Die Mutter«. Wie erklären Sie sich, dass Ihre großen Anstrengungen ohne entsprechendes Echo in der Öffentlichkeit blieben?
Viele Leute verlangen, dass man alles illustriert und gebrauchsfähig macht, dass man den Text der jeweiligen Mode zuordnet. Ich möchte, dass die Leute denken oder meinetwegen auch aufstehen und sagen: »Nee, das ist mir wirklich zu öde ...« Ich verfolge nie den Zuschauer. Ich habe den Text, suche den Gedanken, verfolge ihn, bis ich meine, jetzt habe ich's, dann kann ich raus gehen damit. Ich wünschte mir, Leute würden im Theater beleidigt aufschreien: »Warum werde ich nicht überfordert!«

Die revolutionäre Moral der »Mutter« – wird die heute überhaupt verstanden?
Diese Texte wurden bislang vielfach verstellt. Und es geht auch gar nicht um Moral. Es gibt nur Erfahrungen und Hoffnung.

Wie sah ihre Zusammenarbeit mit den Kollegen aus? Sie haben »nur« die kleine Spielstätte ...
Zusammenarbeit, die wird auch belebt durch Wut und Widerstand. Ja, ich hasste den Dritten Stock ...

Wie gesagt, kleine Spielstätte ...
Ja, ich erstickte in diesem Raum und kam auf keine Idee. Ich sperrte mich gegen eine Ausstattung dieser Zelle. Bis Bert Neumann für »Die Mutter« etwas fand: schwarzes Leinen, das als Bogen rechts und links den Raum abfängt, den Fußboden bedeckt und dahinter die rohe Wand frei lässt, da waren wir auf der gleichen Wellenlänge, das war schön.

Von Brechts Forderung nach dem historisch konkreten Detail des Bühnenbildes blieben hauptsächlich die alten Arbeitsschuhe, geformt und verfärbt von Jahren.
Ha, die sind gut, die sind aus dem Fundus, die Dinger waren gar nicht so einfach zusammenzubringen mit unseren Füßen.

Wie ist es mit den Liedern? Sie lassen viel weg. Sie nehmen nur das Lied über die Erschießung Pawels: »Aber als er zur Wand ging«, gesungen von Ernst Busch. Ist diese Stimme heute nicht zu sieghaft?
Nein, das ist anrührend. Furchtbare Logik: zu begreifen, dass es die eigenen Leute sind, die einen zur Wand führen zum Sterben – das ist viel verlangt. »... ihn aber führten seinesgleichen zur Wand jetzt, … und er, der es begriff – begriff es auch nicht.« Da hast du die ganze Trauer von Busch.

Sie haben viel Text und Szenen gekappt, wie Sie es nennen – die letzten Worte der Mutter sind nicht: »Und aus niemals wird heute noch!«, sondern: »… bedenkt, dass die ganze Welt in einer ungeheuren Finsternis lebt, und ihr allein wart es bis jetzt, die noch für die Vernunft erreichbar waren; bedenkt, wenn ihr versagt.« Sie sprechen das am Boden liegend, aus einer Höhlung heraus, bedeckt von schwarzem Tuch, neben Ihnen stehen Arbeiter, die sich aufgegeben haben.
Ja, und sehen Sie sich diese Männer an: Wenn ihr nicht weiterkämpft, wird es nichts – so heißt es im Stück. Die antworten: Mag sein, aber wir können nicht mehr ... Das sind »nur« Schauspieler, aber durch die ist etwas hindurchgegangen im Leben, das sehe ich, deren Biografie drückt das schon aus. Ich wähle Mistpieler gerne nach ihrer Biografie aus, da müssen die gar nicht mehr so viel machen.

Aber warum wird Pawel von einem Kind gespielt, Davide Scarano?
Bei Gorki ist Pawel am Anfang vierzehn. Davide ist vierzehn. Er stammt aus einer jüdischen Familie aus Odessa, die Großeltern wurden von den Nazis vernichtet. Der hat Geschichte begriffen.

Sie arbeiten auch in den anderen Inszenierungen mit Kindern unterschiedlichen Alters, das sieht aus wie eine Art Artistenfamilie.
Das sind meine Freunde. Davide sagte, er spiele nicht, er mache mich nur nach. Aber daraus wird eines Tages die Selbständigkeit wachsen.

Interview: Ricarda Bethke

NächsteVorstellung: 29. Mai

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