»Ich will mein Leben zurück«

Nachsteller zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt

  • Lesedauer: 4 Min.
Peter Kirschey aus Berliner Gerichtssälen
Peter Kirschey aus Berliner Gerichtssälen

Sie will einfach nur, dass Schluss ist, dass der Albtraum endlich ein Ende hat. Alle im Gerichtssaal verstehen das. Nur einer nicht: der Täter. Dabei ist alles klar und verständlich. Die zierliche Tchibo-Verkäuferin Linda B. will von Tugrul Ö. nichts wissen. Seit nunmehr sieben Jahren stellt er ihr nach, bombardiert sie mit Briefen über sein Seelenleben, postiert sich vor ihrer Arbeitsstelle, starrt sie aus der Entfernung an. Er lässt nicht los. Nun muss das Gericht endlich ein Machtwort sprechen.

Der etwas füllige Mann in seinen rosa Hosen führt sich auf wie ein Tanzbär. Wird er von der Richterin angesprochen, springt er auf, rudert mit den Armen, hüpft von einem Bein auf das andere, drückt seine linke Hand aufs Herz und beschwört seine edlen Absichten. 2005, erzählt der 54-jährige Ehemann und Familienvater, habe er Linda in einer Tchibo-Filiale gesehen und sich unsterblich in sie verliebt. Doch diese »Liebe« ist eine Einbahnstraße, eine Sackgasse. Linda wollte zu keinem Augenblick etwas von diesem Mann wissen.

Das steigerte offensichtlich die Mitteilungswut. Mal schrieb er wöchentlich, mal schaffte er drei Briefe am Tag, um über die gemeinsame Zukunft in Berlin oder Istanbul zu meditieren. Er jammerte über seine gescheiterte Ehe, über das große Lebenspech und das Unverständnis, das die deutsche Welt ihm und seinen Gefühlen entgegenbringt. Auch als er das erste Mal 2009 wegen Nachstellens zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verdonnert wurde, ließ er nicht locker. Das Bombardement hörte nicht auf. Es folgte die zweite Verurteilung im Januar 2011. Diesmal verurteilte ihn das Amtsgericht Tiergarten zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung. Wieder zeigte sich Tugrul uneinsichtig und ging in Berufung.

»Ich bin kein Verbrecher, ich wollte Frau B. niemals bedrohen«, beteuert er immer wieder. Doch entschuldigen will er sich nicht. Er hofft ja immer noch auf eine gemeinsame Zukunft mit Linda, wenn seine Ehe geschieden ist. Er begreift einfach nicht, dass er im Leben der jungen Verkäuferin nicht willkommen ist.

Für Linda ist das Ganze der blanke Horror. Mehrfach musste sie die Filiale wechseln, um den Nachstellungen zu entkommen, einen Lehrgang zur Filialleiterin musste sie abbrechen. Sie kann nicht mehr aus dem Fenster schauen, immer in der Angst, diesen Mann irgendwo stehen zu sehen. »Ich will mit ihm nichts zu tun haben, ich möchte damit endlich abschließen, ich will mein Leben zurück«, erklärt sie unter Tränen. Der Briefterror hat sie sehr mitgenommen.

Doch Tugrul, er gibt Rechtsanwalt als seinen Beruf an, der seit 16 Jahren türkische Berliner in Fragen des türkischen Rechts berät, scheint von allem unbeeindruckt. Noch immer wünscht er sich nur eines: Dass seine Liebe eines Tage erwidert und es eine gemeinsame Zukunft geben wird. Doch der Ton in den Briefen des Nachstellers ist härter geworden. Nannte er sie anfangs noch »liebe Linda«, so wurde jetzt daraus eine »sehr geehrte Frau«. Nun bezichtigt er sie der Lüge und der Bösartigkeit. Kein gutes Zeichen. Eine klare Aussage, dass er aus dem Blickfeld der Frau verschwinden wird, gibt er nicht.

Stalking, also das Nachstellen zum Schaden eines anderen, ist seit März 2007 eine Straftat. In Berlin werden jährlich über 2000 Fälle registriert. 85 Prozent der Täter sind Männer. Wer seine Seele nicht im Griff hat, der ist kein armer und verzweifelter Mann, der verschmäht wurde. Er ist ein Krimineller, der eine Körperverletzung begangen hat. Und das muss auch der Mann in seinem Liebeswahn begreifen. Doch ist zu befürchten, dass Tugrul auch nach dieser Verurteilung uneinsichtig bleiben wird. Für ihn gäbe es eine Organisation, die helfen könnte – wenn er denn wollte. »Stopp Stalking« bietet Tätern Gelegenheit, sich mit ihrer Tat auseinanderzusetzen. Doch dazu ist der Mann nicht bereit. Und zwingen kann man ihn nicht, Hilfe anzunehmen. Und auch Opfer sollten sich nicht scheuen, die Unterstützung von Hilfsvereinen in Anspruch zu nehmen. Denn oft gelingt es nur mit professioneller Hilfe, die quälende Vergangenheit abzuschütteln.

Das Gericht wollte von Tugruls Seelenkautschuk nichts wissen und bestätigte die Verurteilung der Vorinstanz zu einem Jahr Haft ohne Bewährung. Da kein Haftbefehl gegen ihn vorlag, verließ er als freier Mann den Gerichtssaal. Irgendwann wird er einen Brief von der Vollzugsanstalt bekommen, wann und wo er sich einzufinden hat. Vielleicht ist das der Moment, wo er erkennt, dass es so mit ihm nicht weitergehen kann.

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