Orwells Totalitarismus als Vorlage

  • Elke Steven
  • Lesedauer: 4 Min.
Dr. Elke Steven, Jahrgang 1955, arbeitet beim Komitee für Grundrechte und Demokratie und ist Mitherausgeberin des jährlich erscheinenden Grundrechte-Reports.
Dr. Elke Steven, Jahrgang 1955, arbeitet beim Komitee für Grundrechte und Demokratie und ist Mitherausgeberin des jährlich erscheinenden Grundrechte-Reports.

Datensparsamkeit ist das Gebot der Stunde. Angesichts der Datenberge, die überall angehäuft werden, mag die Volkszählung als relativ unbedeutendes Übel erscheinen. Ginge es tatsächlich darum, das Volk zu zählen, um zu wissen, wie hoch die Einwohnerzahl in Städten, Gemeinden und Wahlbezirken ist, so bräuchte man sicher nicht die Religionszugehörigkeit, den Migrationshintergrund und den beruflichen Status erfragen.

Auch die Behauptung, erst die neuen Zahlen würden eine sinnvolle wirtschaftliche und politische Planung ermöglichen, streut Sand in die Augen. Fehlplanungen gehen auf politische Fehlentscheidungen zurück, auf interessegeleitete Deutungen, auf die Berücksichtigung von Lobbyinteressen oder auf die fehlende Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen. Konkrete regionale Datenerhebungen wie Verkehrszählungen können viel kurzfristiger, genauer und billiger zu sinnvollen Planungsgrößen führen.

Große zentrale Datensammlungen bergen immer Gefahren. Sie können diskriminierend verwandt werden, und sie rufen Begehrlichkeiten hervor. So könnten sie für diverse wirtschaftliche Belange, aber auch für polizeiliche oder geheimdienstliche Arbeit interessant sein. Wie schnell der Ruf nach Gesetzesänderungen erschallt, wenn plötzlich der Datenschutz als Täterschutz erscheint, haben wir oft genug erlebt.

In den 1980er Jahren wurde George Orwells Roman »1984«, der den Schrecken eines totalitären Überwachungsstaates beschreibt, zum Symbol für den breiten Proteststurm gegen die Volkszählung. Auch der Zensus 2011 greift weit tiefer als akzeptabel in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein, das die Bundesverfassungsrichter 1983 aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ableiteten.

Der Zensus findet diesmal europaweit statt. Das deutsche »Gesetz über den registergestützten Zensus im Jahre 2011« hat die zu erhebenden und auszuwertenden Merkmale jedoch umfassender normiert, als es die europäische Verordnung verlangt. Die Informationen über die Bürger, die zentral gespeichert werden, dürfen bis zu vier Jahre aufgehoben werden. Mit Hilfe von Ordnungsnummern bleiben sie während dieser Zeit den konkreten Personen zuordbar.

Das Zweckbindungsgebot der Datenerfassung und -speicherung wurde schon missachtet, bevor die öffentliche »Zählung« begann. Bei den Behörden vorhandene Daten der Bürger und Bürgerinnen wurden zu neuen Datensätzen zusammengefasst. Davon sind alle betroffen! Das ist weitgehend lautlos passiert, ohne die Bürger zu informieren. Die Daten werden nicht anonym verarbeitet, sondern sind mit Ordnungsnummern versehen.

Es scheint folglich nur so, als seien »nur« die zehn Prozent betroffen, die direkt befragt werden. Zu den auf Stadt und Land unterschiedlich verteilten zehn Prozent Befragten kommen noch alle Immobilienbesitzer hinzu. Sie sind ebenfalls verpflichtet, Datenbögen auszufüllen und gegebenenfalls auch Angaben über ihre Mieter zu machen.

Die erfragten Daten verletzen das Selbstbestimmungsrecht. Die Angabe über die Religionszugehörigkeit oder die Weltanschauung – mit genauen Unterscheidungen verschiedener islamischer Glaubensrichtungen – ist zwar freiwillig, aber das ist kaum erkennbar. Über die Zugehörigkeit zu Religionsgesellschaften muss Auskunft gegeben werden. Die Frage nach dem Migrationshintergrund bzw. der Einreise nach 1955 schießt völlig über das Ziel hinaus. Auch deutschen Staatsbürger wird ein Migrationshintergrund zugeschrieben, wenn ein Elternteil nach 1955 eingewandert ist. Die deutsche Gründlichkeit geht hier weit über das von der EU geforderte Maß hinaus. Danach wird ein Migrationshintergrund nur dann zugeschrieben, wenn jemand nach 1981 in das EU-Land gezogen ist. Auch die detaillierten Befragungen zu Bildung, zum Arbeitgeber und zur Stellung im Beruf lassen eine soziale Kategorisierung von Menschen zu.

Noch bedenklicher ist die restlose Erfassung aller Abhängigen. Bewohner in »Gemeinschaftsunterkünften« (z. B. Justizvollzugsanstalten, Behindertenwohnheimen und Notunterkünften für Wohnungslose) werden vollständig durch Befragung erfasst – gegebenenfalls durch die Befragungen der LeiterInnen dieser Institutionen. Je abhängiger eine Person lebt, desto geringer sind also ihre Möglichkeiten zu protestieren und zu verweigern. Dieses Vorgehen verstößt frontal gegen grundrechtliche und darüber hinaus verrechtlichte Diskriminierungsverbote. Es verletzt damit außerdem Artikel 1, Satz 1 des Grundgesetzes: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

Die etwa 80 000 »Erhebungsbeauftragten« stellen das erste Risiko in der Kette der Datenunsicherheiten dar und dies nicht nur, weil auch Betrüger den Deckmantel nutzen können. Schon aus Vergesslichkeit könnten Informationen an der falschen Stelle abgelegt werden.

Kritische Wachsamkeit bleibt die Aufgabe aller BürgerInnen.

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