Die Träumer vom Tahrir-Platz
Wie »ganz normale Ägypter« zu Revolutionären wurden
»Ich war eine ganz normale Ägypterin«, sagt Heba Hafiz, »Und wie alle ganz normalen Ägypter hatte ich nur ein Ziel: Ägypten sobald wie möglich zu verlassen. Für Politik habe ich mich nicht interessiert.« Dann kam die Revolution, und alles wurde anders. »Mein Leben ist das komplette Gegenteil dessen, was es vorher war«, bekennt die quirlige junge Frau mit dem Kopftuch. »Ich war auch zuvor schon selbstständig. Aber jetzt bin ich wirklich frei! Ich lasse mir von niemandem mehr etwas sagen, ich mache und setze durch, was ich will.«
In den 14 Tagen, die sie auf dem Tahrir-Platz verbracht hat, habe sie gelernt, stark zu sein, geduldig. »Wir hatten kein Essen, konnten nicht aufs Klo. Meine Eltern waren nicht reich, aber auch nicht arm, so etwas kannte ich also vorher nicht.« Die Revolution, sagt Heba, war die wichtigste Zeit ihres Lebens, die schönste und schrecklichste zugleich. »Wir haben dem Tod gegenübergestanden, wir haben gesehen, wie Freunde neben uns gestorben sind. Danach ist nichts mehr wie zuvor.«
Heba Hafiz ist 30, sie ist Lehrerin an der American International School, einer teuren Privatschule, war zweimal kurz verheiratet, wohnte seit der letzten Scheidung wieder bei ihren Eltern. Zur ersten großen Demonstration am 25. Januar ging sie allein, sie hatte im Internet davon gelesen, niemand ihrer Freunde wollte mit. »Ich hatte überhaupt nicht vor zu bleiben.« Dann aber traf sie einen Freund ihres Bruders – und sah, wie brutal die Sicherheitskräfte gegen die Demonstration vorgingen. Und blieb, mit unzähligen anderen.
Die ersten Nächte schliefen sie auf dem Boden, erst nach und nach trafen Planen, Zelte ein. Und doch sagt sie im Nachhinein, dass die erste Nacht auf dem Boden die schönste Erinnerung an die ganze Zeit sei. »Ich war so müde, und der Boden war hart. Rund um den Platz gab es Angriffe, von der Polizei, von Schlägertrupps. Aber ich habe mich hingelegt und mich völlig sicher gefühlt, weil ich wusste, dass meine Freunde um mich waren und dass sie mich beschützen würden. Das war ein Gefühl von Geborgenheit und Zusammengehörigkeit, das ich nie vergessen werde.«
Mit ihren Freunden aus vorrevolutionärer Zeit hat sie keinen Kontakt mehr. 15 Jahre lang war sie fast jeden Tag mit ihnen zusammen. »Seit der Revolution habe ich sie kein einziges Mal getroffen, und ich will es auch nicht. Sie können mich nicht verstehen. Sie alle waren gegen die Revolution.«
Auch mit ihren Eltern hat sich Heba überworfen, gerade ist sie ausgezogen, hat sich gemeinsam mit einer Freundin eine eigene Wohnung genommen. Zuerst hätten ihre Eltern sie unterstützt, aber jetzt seien sie, wie so viele der älteren Generation, dagegen, weiter zu protestieren. »Sie glauben, was ihnen im Fernsehen erzählt wird. Sie sagen, wir würden das Land ruinieren, wenn wir weiter auf Reformen drängen. Sie glauben den Militärs.« Hilflos schüttelt die junge Lehrerin den Kopf. »Wir haben doch gesehen, was die tun.«
Sie sagt, der schlimmste Moment der letzten Monate sei keiner der Revolutionstage gewesen, nicht der 2. Februar, als »baltagiyyas«, bezahlte Schläger, die Protestierenden angriffen und zahlreiche töteten, keiner der Tage der Polizeigewalt. Sondern der 9. April, jener Tag, als sie zwei Monate nach Mubaraks Rücktritt mit Tausenden anderen nach einer Demonstration noch einmal versuchte, den Tahrir-Platz zu besetzen. Und das Militär das Feuer auf sie eröffnete. »Dass die tatsächlich schießen, dass die, denen wir vertraut haben, auf uns schießen, das habe ich bis heute nicht verkraftet.«
Die Bilder dieser Nacht, als sie um ihr Leben rannte, gehen ihr nicht aus dem Kopf. Dieser Moment hat sie verunsichert: Die Euphorie, der Glaube, dass nun alles besser werde, ist verflogen. »Es ist nicht gut, wenn die Leute zulassen, dass die Armee jetzt genau das tut, was zuvor Mubaraks Polizei getan hat.« Und dennoch ist sie sicher. »Die Revolution hat uns unglaublich viel gebracht: Wir sind ein freies Land. Wir, die jungen Leute, haben gelernt, Nein zu sagen, aufzustehen, eine Meinung zu haben. Da gibt es kein Zurück.«
Auch für sie selbst gibt es das nicht: Ihr neues Leben ist entscheidend von der Politik geprägt. Die Gruppe, in der sie aktiv ist, trifft sich jeden Tag, man ist dabei, eine Partei für die Wahlen im September zu gründen. Vor allem aber sind da die Erfahrungen, die sie auf dem Platz gemacht hat, »dieses Gefühl von Geborgenheit, Solidarität, Zusammengehörigkeit, wie jeder sich um jeden gekümmert hat, dieses Gefühl war so stark, das werde ich nie vergessen«.
Die neuen Freunde sind ihr vertrauter, als es ihre alten je waren. »Diese Beziehung zu den Leuten unserer Gruppe, die wir zusammen auf dem Platz gekämpft haben, kann niemand verstehen, der nicht dabei war. Das ist so etwas Besonderes, das kann ich nicht einmal erklären... Wenn ich einen von denen umarme, küsse, dann denke ich nicht daran, ob das ein Mann, eine Frau ist, das ist eine ganz andere Art von Beziehung. Weil wir zusammen die härtesten und die schönsten Tage durchgemacht haben. Weil wir gemeinsam dem Tod gegenübergestanden haben.«
Ahmed Fathi, 21 Jahre alt, hat sich auch vor der Revolution für Politik interessiert. »Ich habe die Nachrichten gesehen, im Internet Blogs gelesen. Ich wusste, was geschieht. Ich habe mitbekommen, als Khaled Said totgeprügelt wurde.« Am Ende war es die Angst, die den jungen Mann mit den verstrubbelten Haaren wie viele Freunde davon abgehalten hat, aktiv zu werden. »Jeder wusste, wie die Sicherheitspolizei arbeitete. Und was geschah, wenn die einen verhaftete.«
Aber dann war auf einmal alle Angst weg. »Als die Revolution begann, war klar: Das ist unsere Revolution. Und um die kämpfen wir, ob wir leben oder sterben.« Die ersten Tage war er noch in seiner Heimatstadt Mansoura auf die Straße gegangen, etwa zwei Stunden von Kairo entfernt. Doch die Proteste blieben dort schwach, nach ein paar Tagen war klar: Hier können wir nichts erreichen. Im Fernsehen, auf »Al Dschasira«, sah Ahmed die Menschenmassen, die den Tahrir-Platz in Kairo füllten. Ihm war klar: »Dort müssen wir jetzt hin.« Zusammen mit Ramy, einem Freund, machte er sich auf den Weg. Sie fuhren mit dem Bus, der Metro, liefen das letzte Stück bis zum Tahrir-Platz. »Wir kannten niemanden, wir hatten nichts dabei als das, was wir anhatten. Und sofort kamen die Leute, brachten uns zu einem Zelt, gaben uns Schlafsäcke, zu essen.« Er traf neue Leute. »Freunde aus der Revolution sind die besten, die man haben kann«, sagt Ahmed. »Wie sich alle umeinander gekümmert haben! Wir standen den ›baltagiyyas‹ gegenüber, haben den Platz verteidigt, und dann kam jemand und sagte: Du siehst müde aus. Lass mich weitermachen, leg dich hin und schlaf, damit du morgen weiterkämpfen kannst.«
Die Revolution habe allen viel Hoffnung gegeben: Allein er kenne sechs Leute, die wegen der Revolution aus dem Ausland zurückgekommen seien und bleiben wollen. Auch er blieb, blieb auf dem Platz, bis am 11. Februar die Nachricht kam, dass Mubarak zurückgetreten sei.
Mit den Freunden in Mansoura versteht er sich noch immer, sie alle haben die Revolution unterstützt. Doch er sieht sie nicht mehr oft. Den größten Teil der Woche verbringt er in Kairo, mit seinen neuen Freunden und denen, die wie Ramy mitgekommen waren, sitzt mit ihnen in den Cafés der Innenstadt, schlägt sich die Nächte um die Ohren, geht auf Treffen, Konferenzen und immer wieder auf den Platz.
Ahmed hat sein Jurastudium abgeschlossen, eigentlich müsste er sich einen Job suchen, aber derzeit ist er einfach nur Aktivist. »Bis zur Revolution dachte ich immer, ich suche mir einen Job als Anwalt oder Staatsanwalt. Jetzt mache ich mir viel mehr Gedanken: Was kann ich machen, um tatsächlich den Menschen zu helfen, nicht den Reichen, nicht den Regierenden?«
Einer Gruppe, einer Partei hat er sich nicht angeschlossen. »Wir, die Unabhängigen, sind die wirklich aktiven, wir tragen die Bewegung. Ich möchte keiner Partei helfen, sondern den Menschen.« Den Armen, von denen es in Ägypten viel zu viele gebe. Den Arbeitern. Den Straßenkindern, von denen sich eines ihnen angeschlossen hatte. Sie brachten dem Jungen das Schreiben bei, verloren ihn aber am 9. März, als das Militär das Camp stürmte und räumte. Es ärgerte Ahmed Fathi, Menschen nach Mubaraks Rücktritt wie nach einem gewonnenen Fußballspiel in den Straßen feiern zu sehen. »Die Revolution ist kein Fußballspiel, sie ist nicht so schnell gewonnen.«
Er ist unzufrieden mit der Situation: »Der Militärrat macht, was er will. Tausende Zivilisten, viele Protestierende wurden vor Militärgerichte gestellt und zu jahrelangen Gefängnisstrafen verurteilt, warum?« Er kämpft für die Freilassung der Gefangenen. Für die Verschiebung der Wahlen. Für eine neue Verfassung. Und den Rückzug des Militärs aus der Politik. »Wir brauchen eine zivile Übergansregierung.« Einfach, das weiß er, wird das alles nicht. »Ich glaube, dass wir zurück auf die Straße müssen. Wir werden noch einmal auf dem Platz sitzen.« Dann wird er vielleicht auch wieder die Slogans hören, die immer noch in seinem Kopf widerhallen, die Rhythmen der gemeinsamen Rufe. »Manchmal träume ich von den Tagen auf dem Tahrir-Platz, ich träume, wie die ›baltagiyyas‹ uns angreifen. Und selbst wenn ich vor Schreck aufwache – ich liebe jeden dieser Träume, weil er mich an die Revolution erinnert.«
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