Verrat aus Treue zur Freiheit

Zum Tode des spanischen Schriftstellers Jorge Semprún

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.

Wahnwitz erfindet nicht. Wahnwitz ist zu wahr für unsere Fantasien. Wahnwitz war der Lehrer Shakespeares – der Stoff reicht bis heute. Auf dem Ettersberg bei Weimar steht ein Häftling an der »Goethe«-Buche und wird von einem SS-Mann gefragt, was er da zu suchen habe. Wahrscheinlich rettet den Gefangenen vorm Erschießungstod nur eine Sekunde Verdutztheit des Bewachers. Verdutztheit, weil der spanische Häftling den deutschen Soldaten mit Goethe-Versen in gepflegtestem Deutsch beschämt (Deutsch, das ihn einst das Kindermädchen im großbürgerlichen Elternhaus gelehrt hatte). Eine kühne Reaktion des Häftlings. Weil diese Beschämung auch das Gegenteil hätte hervorrufen können: den aggressiven Griff zur Waffe.

Der Häftling war Jorge Semprún. Goethe als irreales Zentrum eines sehr realen Schreckensmoments. Unfassbar. Der sensible Geist Semprún: am Ort der Klassiker auch auf andere auf zynischste Weise konfrontiert mit der geliebten fremden S...


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