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Die schnellen und die langsamen Schüler
An der Diesterweg-Grundschule in Falkensee lernen alle gemeinsam / Ab 2013 soll es in den 1. Klassen überall so sein
Es sieht nicht aus wie ein Klassenzimmer, eher wie eine kleine Turnhalle. Auf dem Teppich liegen Matten. Vier Jungen pusten durch Trinkröhrchen und blasen so Wattestückchen über die Ziellinie. Mit dem kleinen Wettkampf lässt Sonderschulpädagoge Martin Köder die Geschicklichkeit üben. Danach sitzen sechs Jungen um ein Würfelspiel. Die Figur landet auf Bildchen, und wer dran ist, muss sich zum jeweiligen Bild eine kurze Geschichte ausdenken. Meistens unterlaufen den Schülern beim Sprechen grammatische Fehler, oft fallen sie sich ins Wort oder balgen sich beinahe um den Würfel. Köder muss immer wieder unterbrechen und an die Regeln erinnern.
530 Zöglinge zählt die Adolph-Diesterweg-Grundschule in Falkensee (Havelland). Darunter befinden sich elf Lernbehinderte, fünf mit Sprachdefiziten, drei mit emotional-sozialen Entwicklungsschwierigkeiten, ein leicht geistig Behinderter und ein Mädchen mit Downsyndrom.
So wie hier soll es künftig überall sein. Alle sollen gemeinsam lernen (Stichwort: Inklusion), aber nicht immer. Wer speziell gefördert werden muss, verlässt auch mal seine Klasse und wird im kleinen Kreis unterwiesen, wo sich die Pädagogen mehr Zeit nehmen. So wie die drei Mädchen aus der 4. Klasse, die mit einer Lehrerin Einkaufsladen spielen und dabei die Preise etwa für Kekse, Katzenfutter und Nudeln addieren müssen.
Das flächendeckende gemeinsame Lernen versucht Bildungsministerin Martina Münch (SPD) derzeit durchzusetzen. 2012/13 soll damit in den 1. Klassen begonnen werden. Münch erhält erheblichen Gegenwind. Doch sie sieht nicht recht ein, warum der Widerstand so groß ist. Sie plane nichts als eine Forcierung dessen, was ohnehin schon gemacht werde, erklärt sie. Den gemeinsamen Unterricht gebe es in Brandenburg schließlich bereits seit 1991. Als gutes Beispiel zeigte die Ministerin am Freitag Journalisten die Diesterweg-Schule in Falkensee.
Im hiesigen Schulamtsbezirk Brandenburg/Havel gebe es bereits seit fünf Jahren an jeder Grundschule Kinder mit Förderbedarf, während in den beiden Förderschulen in Nauen und Falkensee inzwischen keine Erstklässler mehr sind, erläutert die zuständige Schulrätin Heike Noll.
Landesweit seien nur noch 200 Erstklässler mit Lernbehinderung, Sprachdefiziten oder emotional-sozialen Schwierigkeiten an Förderschulen untergebracht, ergänzt Bildungsministerin Münch. Insofern sei das Datum 2012/13 realistisch. Einzügige Grundschulen sollen einen Sonderpädagogen zugeteilt bekommen, zweizügige Schulen zwei Sonderpädagogen und dreizügige Grundschulen drei.
An der Diesterweg-Schule sind es jetzt schon drei Sonderpädagogen. Im Idealfall wären es drei Kollegen mehr, würde sich die Sonderschullehrerin Ilka Baier wünschen, die seit drei Jahren hier unterrichtet. »Manchmal komme ich mir ein bisschen hilfslos vor«, gesteht sie. »Ich würde gern mehr helfen.« Aber für das gemeinsame Lernen sei sie von Anfang an gewesen, beteuert Baier. Sie arbeitete vorher drei Jahre an einer Förderschule und kann so einen Vergleich ziehen. Die allermeisten Kinder mit Förderbedarf kommen beim gemeinsamen Lernen weiter, als sie das an der Förderschule geschafft hätten, sagt die Lehrerin. Sie erinnert sich nur an wenige, die es schwer hatten und hier vielleicht untergehen würden. Die bräuchten jemanden, der immer neben ihnen sitzt.
Schulleiter Hartmut Friedrich räumt ein, dass sein Lehrerkollektiv manchmal an Grenzen stößt und sich allein gelassen fühlt. Trotzdem befürwortet Friedrich, der selbst eine gehörlose Tochter hat, den gemeinsamen Unterricht. Erst am Donnerstag hörte er in einer Elternkonferenz wieder von der Angst, das Niveau könnte sinken, weil nur noch leichte Aufgaben gestellt werden. Dem sei aber nicht so. Wer mehr schaffe, bekomme schwierigere Aufträge und die besonders Begabten werden extra gefördert, versicherte Friedrich. Auch das gehöre zu einer inklusiven Schule.
Außerdem profitierten auch die Leistungsstarken vom gemeinsamen Lernen. Was sie dabei an sozialer Kompetenz erwerben, sei »unbezahlbar«, schwärmte der Schulleiter. Man sei auf dem Weg zur inklusiven Bildungsstätte, wolle zeigen, dass es funktioniere, »und es funktioniert schon ganz gut«. Das Geheimnis des Erfolgs: Die Lehrer sind mit Herzblut dabei. Das sei sehr wichtig, meint Friedrich.
Peter Vogeley wurde vor drei Jahren empfohlen, seinen Sohn in eine Förderschule für geistig Behinderte zu schicken. 30 Minuten hätte er hin fahren müssen und 30 Minuten zurück, von Montag bis Freitag. Die Eltern entschieden anders, brachten den Sohn zu Friedrich. Auch Christina Hoffmann wollte ihre Tochter Anna, die am Downsyndrom leidet, nicht in eine Spezialschule stecken, sondern »in der Gesellschaft«, bei den gewöhnlichen Schülern sehen. Sie ist froh, dass Friedrich und seine Kollegen den Versuch wagten.
Die inklusive Schule einführen und zugleich 27 Millionen Euro an der Bildung sparen, das gehe nicht zusammen, rügt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). »Ich wäre eine schlechte Bildungsministerin, wenn ich mir nicht mehr Ressourcen wünschen würde«, sagt Martina Münch. Doch man müsse mit dem Geld, das man habe, etwas machen.
Die GEW kritisiert auch, dass Sonderpädagogen in den regulären Grundschulen oft als Reserve für Vertretungsstunden missbraucht werden, anstatt ihrer Qualifikation entsprechend eingesetzt zu werden. GEW-Landeschef Günter Fuchs erhob diesen Vorwurf. Tatsächlich passiert das. Ilka Baier weiß von solchen Fällen. Ihr selbst geschieht es aber nicht. Sie vertrete nur höchst selten, wenn viele Kollegen krank sind, erzählt sie. Dann sei sie allerdings auch in den Klassen mit ihren Förderkindern.
Mittlerweile ertönt das Pausenzeichen. Jungen und Mädchen stürzen fröhlich lärmend durch die Flure. Hartmut Friedrich schmunzelt: »Tja, das ist eine Schule.«
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