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- ND-Beilage Generation50PLUS
Stirbt die alternative Kultur Berlins?
Spuren der Hausbesetzungen in Berlin verschwinden
»Wir bleiben alle!« So steht es noch auf der Fassade Brunnenstraße 183 geschrieben. Davor steht eine Gruppe italienischer Touristen und rätselt über die merkwürdig verschweißten Fenster. Einer von ihnen gibt den »Lonely Planet« kurz aus der Hand, setzt seine Ray-Ban-Sonnenbrille ab und schießt noch schnell ein Foto von dem bunten Haus. Wir bleiben alle?
Das Hausprojekt inklusive Umsonstladen, das sich hier einst befand, wurde vor zwei Jahren geräumt. Der neue Besitzer hatte andere Pläne mit dem Grundstück. Die Brunnenstraße 183 ist kein Einzelfall. Viele alternativen Projekte und Clubs in Berlin ereilte in den letzten Jahren dasselbe Schicksal. Der Kultclub Eimer am Rosenthaler Platz, Geburtsort legendärer Ostberliner Bands wie »Die Firma«? Abgerissen. Das prominente Kunsthaus Tacheles in der Oranienburger Straße? Zum Teil geräumt. Der Schokoladen in der Ackerstraße, eine Kulturinstitution, die 1990 in einem besetzten Haus entstand? Kämpft in den letzten Atemzügen ums Überleben. Und durch den ehemaligen Magnetclub in der Greifswalder Straße 212 schieben junge Mütter ihre Kinderwägen. Hier befindet sich inzwischen ein Biosupermarkt.
Die Subkultur, aufgebaut in den wilden Zeiten des alten West-Berlins, beziehungsweise nach der Wende im Osten der Stadt, droht zu verschwinden. Benjamin Biel, langjähriger Besitzer des Maria Clubs, kann ein Lied davon singen. Der Club am Ostbahnhof muss nun schon zum zweiten Mal seine Pforten in Friedrichshain schließen. Der Senat versteigerte das Grundstück an den Meistbietenden. Gegen Ende des Jahres wird dort wohl ein Bürogebäude gebaut. »Anfang der 1990er konnten wir für 'nen Appel und ein Ei Clubs aufbauen. Alles schien möglich. Unser Mobiliar hatten wir von der Straße und obwohl auch damals keine Förderung da war, gab es eine sehr lebendige und engagierte Szene.« Doch jetzt brauche Berlin Geld. Grundstücksverkauf bessert die Kassen kurzfristig auf, aber ergibt das auch langfristig Sinn? »Letztendlich fallen wir alle dem Glauben an ein unendliches Wirtschaftswachstum zum Opfer. Seit Langem konnten wir kaum ein Jahr in die Zukunft planen. So möchte ich nicht mehr arbeiten.«
Kultur im Tausch gegen Wirtschaft? Den Protagonisten von damals bleibt oftmals nichts anderes übrig, als sich den neuen Umständen anzupassen. Das bedeutet Kommerzialisierung oder von der Bildfläche zu verschwinden. Auch an Nachwuchs mangelt es. Fehlt der sogenannten Jugend von heute das Engagement?
»Nein«, meint Matthias Matthies, ehemaliger Mitbetreiber des Knaack Clubs, »aber Behindertentoiletten, Brandschutzbestimmungen, Arbeitsschutzmaßnahmen, Lüftungsanlagen und Schallschutzeinrichtungen – die Bürokratie erschwert neue Projekte erheblich.« Matthies erinnert sich an eine Anekdote: »Wir hatten einen Fahrstuhl aus dem Jahr 1903, der jedes Jahr vom TÜV geprüft wurde. Irgendwann verdonnerte uns ein Inspektor zur Installation einer sehr teuren Lichtschranke – das sei Vorschrift. Was also 100 Jahre lang ging, war plötzlich ein Problem.« Gestiegene Kosten und Beschwerden aus einem neu errichteten Wohnhaus, Wand an Wand mit dem ältesten Club Berlins, führten 2010 letztlich zur Schließung.
Doch es gibt noch immer Projekte, die sich gegen die Kommerzialisierung behaupten, wie das legendäre SO 36 in Kreuzberg. Zwar gab es auch hier Probleme, wieder hatten Anwohner sich über den Lärm beschwert, doch die Institution erhielt Unterstützung. So spielten etwa »Die Toten Hosen« 2009 ein Benefizkonzert, zur Finanzierung einer Lärmschutzwand. »Viele Leute von damals sind dem Laden noch sehr verbunden«, erzählt Nanette Fleig, »aktiv dabei sind aber nur noch ein Handvoll Leute.« Letzten Monat wurde hier der 60. Geburtstag einer Mitarbeiterin gefeiert. Die jüngste Praktikantin ist 21. »Wir haben einen sehr offenen Umgang miteinander. Ob jemand 30 Tage oder 30 Jahre dabei ist, spielt keine Rolle.« Dass die Jugend heute weniger Begeisterung für alternative Projekte hätte, findet sie gar nicht. »Die jungen Leute hier nehmen die Strukturen, die in Kreuzberg mühevoll geschaffen wurden, schon als selbstverständlich wahr. Aber sie wissen sie auch sehr zu schätzen und helfen, sie zu erhalten.« Mehr noch – viele gingen anschließend in die Welt hinaus und kreierten ihr eigenes Ding.
Ähnlich sieht es auch Matthies: »Es wird weiter Subkulturen geben und ich bin der festen Überzeugung, dass es immer wieder junge Menschen geben wird, die ihre eigenen Lebenskonzepte trotz aller Widrigkeiten austesten werden.« Auch wenn es also sehr bedauerlich ist, dass vieles verschwindet – vom Festhalten an bestehenden Verhältnissen hat man in der alternativen Kulturszene bekanntlich noch nie viel gehalten. Frei nach dem Motto: Die Subkultur ist tot, es lebe die Subkultur!
Zum Weiterlesen:
- Susan Arndt (Hrsg.): Berlin, Mainzer Strasse: »wohnen ist wichtiger als das Gesetz«. Basis-Druck. 1992. ISBN 3-86163-020-6
- Tobias Rapp: »Lost and Sound – Berlin, Techno und der Easyjetset.« Suhrkamp. 2009. ISBN-10: 9783518460443
- Daniela Dahn: »Kunst und Kohle. Die ›Szene‹ am Prenzlauer Berg.« Luchterhand. 1989
- Wolfgang Müller: »Subkultur West-Berlin. 1979-1989.« Freizeit Verlag. 2011. ISBN-10: 3865726712
- Albert Scharenberg: »Der Sound der Stadt. Musikindustrie und Subkultur in Berlin.« Westfälisches Dampfboot. 2005. ISBN-10: 3896916181
- Schokoladen: Ackerstraße 169, 10115 Berlin, Eintritt zwischen 4 und 10 Euro. Di Lesung, sonst täglich Konzerte ab 20 Uhr. www.schokoladen-mitte.de
- Tacheles: Oranienburgerstraße 54-56a, 10117 Berlin
Ausstellungen täglich geöffnet. Spenden willkommen. www.super.tacheles.de - ADS / An der Schillingbrücke (ehemals Maria): Stralauer Platz 33-34, Veranstaltungen noch bis Ende des Jahres, Newsletter unter: www.clubmaria.de
- SO 36: Oranienstr.190, 10999 Berlin, Konzerte 15-20 Euro, Parties 5-10 Euro; Mittwochs Nachtflohmarkt & Kiezbingo, Internet www.so36.de
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