Gräberpflege in Russland
Das russische Verteidigungsministerium eröffnet eine virtuelle Gedenkstätte für die Kriegstoten
»Darf man das überhaupt? Feiern an diesem Tag?« Die Tafel ist festlich gedeckt, der Sekt steht im Kühlschrank. Doch Sergej Iwanow, der einst als Kameramann für das sowjetische Fernsehen populärwissenschaftliche Filme drehte, hat jedes Jahr das gleiche Problem mit seinem Geburtstag. Dem 22. Juni 1941, dem Tag, als Hitler die Sowjetunion überfiel. Seinen Vater hat er nie kennengelernt. Er fiel gleich in den ersten Kriegswochen. In der Kesselschlacht von Smolensk, wo Ehefrau Raissa herstammt. Wenn die Iwanows dort zu Besuch sind, gehen sie stets auch auf den deutschen Soldatenfriedhof. »Der ist super gepflegt«, sagt Sergej. »Die Enkel wissen zwar, dass ihre Großväter für eine verbrecherische Idee gefallen sind. Aber sie haben Respekt vor ihren Toten.«
Sergej schweigt, doch in seinem Gesicht arbeitet es. Immer, wenn er über die schattigen Wege unter den hohen Bäumen gehe, sagt er dann, versuche er sich vorzustellen, wie die, die dort unter der Erde liegen, wohl waren. Wie sie starben. »Vielleicht«, sagt Sergej, »hat einer von ihnen im Kampf meinen Vater getötet. Oder der ihn.« Bis heute weiß er nicht einmal, wo genau sein Vater fiel und wo er begraben wurde. »Wahrscheinlich liegt er in einem Massengrab, das längst von Unkraut überwuchert ist. Blin!«, schimpft er – auf Deutsch etwa »Mist!« –, »Journalisten, noch dazu westlichen, sollte man sowas eigentlich nicht erzählen. Es wirft kein gutes Licht auf uns.«
In der Tat. Zwar sind die großen offiziellen Gedenkstätten, die die Sowjetunion und später das prokommunistische Russland in Moskau, Leningrad und den anderen Heldenstädten für die gefallenen Sowjetsoldaten errichtete, nach wie vor tipptopp in Ordnung. Der Rasen ist grün, wird regelmäßig gewässert und gemäht. Vor den Granitplatten liegen nicht nur an Feiertagen Blumen. Umso schlimmer steht es um die Kriegsfriedhöfe in der Provinz. Den Kommunen fehlt das Geld, ihre Bürger haben mit Alltagsproblemen mehr als genug zu tun.
Zwar ging – völlig zu Recht – ein Aufschrei der Empörung durch das Land, als das Verteidigungsministerium in den wilden Neunzigern verkündete, für die Pflege sowjetischer Militärfriedhöfe im Ausland sei leider kein Geld mehr da. Ebenso hoch schlugen die Wogen der Entrüstung, als Estland 2006 die Bronzestatue des Befreiers aus dem Zentrum der Hauptstadt Tallinn entfernte und auf einem Militärfriedhof abstellte. »Holt unsere gefallenen Helden zurück in die Heimat. Nach Russland!« Bittbriefe wie diese gingen zu Hunderten bei Kreml und Regierung ein.
Auch die Medien machten sich mit heiligem Zorn über das Thema her, staatstreue schwiegen dabei jedoch die verwahrlosten Gräber gefallener Sowjetsoldaten tot, die im Schoß von Mutter Heimat ruhen. Zwar gibt es nach wie vor Gruppen, darunter auch Jugendliche, die aus eigener Initiative auf den Soldatenfriedhöfen umgestürzte Grabsteine wieder aufrichten, blank polieren, Holzkreuze aufstellen, Unkraut jäten. Einige versuchen sogar, Licht in das Dunkel der Schicksale namenlos Bestatteter zu bringen.
Andere graben mit weniger ehrenhaften Zielen auf den Friedhöfen: Neonazis oder Militaria-Sammler, die nicht einmal vor Leichenfledderei zurückschrecken. Das Phänomen hatte offenbar spätestens 2008 derartig kritische Ausmaße erreicht, dass sich sogar das Staatsfernsehen genötigt sah, erzieherisch einzugreifen. Zum Jahrestag des Siegs lief dort der Film »Wir aus der Zukunft«. Er erzählt die Geschichte junger Grabschänder, denen die Beute – Soldbücher und Taschenuhren – zum Verhängnis wird. Die Zeitmaschine katapultiert sie in den Spätsommer 1941 in akkurat jenes Regiment, wo die beraubten Toten einst dienten. Erst als die Räuber sich im Kampf bewährt haben, kehren sie ins Heute zurück. Geläutert und als Patrioten.
Futuristisch mutet auch das Projekt an, dass das Verteidigungsministerium am 22. Juni in der Moskauer Manege der Öffentlichkeit vorstellt: Eine virtuelle Militärnekropole. Kernstück ist eine elektronische Datenbank, die jeder Internet-User anklicken kann. Wer nach gefallenen oder vermissten Verwandten und Freunden sucht, braucht dort nur deren Namen einzutippen. In dem Fenster, das sich dann öffnet, erscheinen neben dem Foto des Gesuchten – allein dazu wurde Millionen Soldbücher digitalisiert – auch genaue Angaben zum Ort seines Begräbnisses. Die Datenbanken werden laufend vervollständigt und vielleicht, so hofft Kameramann Sergej, werde er doch noch vor dem Grab seines Vaters stehen. Vor dem virtuellen und sogar vor dem realen.
Besucher der Website können auch einen virtuellen Spaziergang durch alle Gedenkstätten – in Russland wie im Ausland – unternehmen, dort jeden beliebigen Pfad entlang gehen, vor einzelnen Grabstätten stehen bleiben und virtuell davor Blumen niederlegen. Die Bilder, schwärmt Alexander Kirillin, Chef der Hauptabteilung für ehrendes Gedenken der Verteidiger des Vaterlandes, seien vom Allerfeinsten: Dreidimensional und im HD-Format.
Später sollen auch virtuelle Besuche von Gedenkstätten aus dem Ersten Weltkrieg möglich werden. Alle Militärgrabstätten wurden dazu bereits verkartet. Das Projekt, sagt Kirillin, treffe genau den Zeitgeist. »Viele unserer Bürger können aus finanziellen oder gesundheitlichen Gründen unser Riesenland nicht mehr von Ost nach West durchqueren oder ins Ausland reisen, um das Grab ihrer Verwandten zu sehen. Mit unserem Projekt können sie es vom Sofa aus tun. Und sich dabei zudem noch mit eigenen Augen davon überzeugen, wie die Gedenkstätten aus dem Ersten Weltkrieg und dem Großen Vaterländischen Krieg eigentlich aussehen.«
Ergänzende Informationen sowie kritische Anmerkungen zu Design und Inhalt, sagt Kirillin, seien ausdrücklich willkommen. Ethische Bedenken gegen das Projekt, wie sie vereinzelt bereits laut wurden, hält er für unbegründet: »Eine solche Erinnerung an die Gefallenen verletzt die Menschenwürde nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Damit kann die junge Generation für die Erforschung des Großen Vaterländischen Krieges in einer für sie zugänglichen Form gewonnen werden.« Sein Wort in Gottes Gehörgang.
Die bitteren Jahre der
Bedrückung und des Bösen
Sind auch noch heute nicht
vergessen,
Doch blitzartig
leuchtet es in mir auf:
Ich habe nichts vergessen, nein,
Und auch die Toten und die Opfer
Werden aus ihren Gräbern steigen, wenn du rufst.
Olga Bergholz (1910-1975)
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