Allein und hilflos in einer fremden Welt
Prozessauftakt gegen eine junge Mutter, die ihr neugeborenes Kind tötete – Öffentlichkeit ausgeschlossen
Sie hat einen Menschen getötet, ohne Mörderin zu sein, heißt es in der Anklageschrift gegen die 20-jährige Adriana-Maria. Der Anklagevorwurf: Totschlag. Dahinter verbirgt sich ein Geschehen, das sich in den Weihnachtstagen des letzten Jahres in Charlottenburg abgespielt hat. Am 26. Dezember gegen 17.45 Uhr brachte Maria ohne fremde Hilfe im Badezimmer ihrer Wohnung in der Kaiser-Friedrich-Straße einen gesunden Sohn zu Welt.
Minuten später hörten Hausbewohner, die im Familienkreis das Weihnachtsfest feierten, im Hinterhof ein leises Wimmern. Sie liefen hinaus und fanden vor der Kellertreppe im Schnee einen schreienden nackten Säugling. Das Kind wurde mit dem Rettungswagen sofort in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht, wo es am nächsten Morgen starb. Den Sturz aus dem ersten Stock hatte das Neugeborene unbeschadet überstanden, doch die Folgen der Unterkühlung waren tödlich und die Mühen der Rettungsärzte vergeblich.
Alle Spuren wiesen auf eine Wohnung, die erst seit zwei Monaten mit einer neuen Mieterin belegt war: die von Maria. Die Rumänin, der deutschen Sprache nicht mächtig, hatte sich – gezwungen oder freiwillig, das ist noch nicht bekannt – in Berlin angesiedelt, um hier als Prostituierte zu arbeiten. Die zierliche Frau mit feuerroten Locken wurde festgenommen und sitzt in Untersuchungshaft. Bekannt wurde: Sie hat bereits 2009 ein Kind zur Welt gebracht, das jetzt bei Verwandten in Rumänien leben soll.
Zum gestrigen Prozessauftakt beantragte die Verteidigerin, die Öffentlichkeit von der Verhandlung auszuschließen, da durch die Aussagen ihrer Mandantin und die der psychologischen Gutachterin Details aus dem Familien- und Sexualleben sowie der Tätigkeit als Prostituierte an die Öffentlichkeit gelangen würden. Das stelle eine unzumutbare Belastung für die 20-Jährige dar. Ihre schutzwürdigen Interessen stünden über dem Recht auf Öffentlichkeit. Außerdem handle es sich bei der Angeklagten um eine junge Frau, die zur Tatzeit Heranwachsende gewesen und deshalb nach dem Jugendstrafrecht zu behandeln sei. Das Gericht folgte dem Antrag. Gleichzeitig kündigte die Verteidigung eine Erklärung der jungen Frau an, in der sie sich zu den Motiven ihrer Tat äußern will. Erst wenn Zeugen – Hausbewohner, Polizisten Ärzte – aussagen, darf die Presse wieder dabei sein.
Der Fall war von rechten Internetplattformen zu bösartiger ausländerfeindlicher Stimmungsmache missbraucht worden. »Eine deutsche Mutter wäre zu einer solchen Tat nicht fähig.« »Von einer Mutter kann man in diesem Zusammenhang nicht reden.« »Die Presse spricht von Berlinerin. Da krieg ich nur das Kotzen. Nur weil eine Zigeunerin aus Rumänien sich eine Wohnung anmietet, evtl. von ihrem Hurenlohn bezahlt, ist sie noch lange keine Berlinerin.«
Tatsächlich gibt es in Berlin und Brandenburg immer wieder Fälle von Kindstötungen. So wurde 2009 in Wilmersdorf ein Neugeborenes in einem Altkleidercontainer entdeckt, 2008 wurde ein toter Säugling im Köpenicker Forst gefunden. In beiden Fällen handelten die Mütter in einer psychischen Ausnahmesituation.
Maria soll die unfassbare Tat bei der polizeilichen Vernehmung gestanden haben. Von der Möglichkeit, ihr Kind anonym in eine Babyklappe eines Krankenhauses zu legen und damit straffrei zu bleiben, habe sie nichts gewusst. Nun muss sie mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe rechnen, wenn ihr der Gutachter volle Schuldfähigkeit bescheinigt.
Zumindest an diesem ersten Prozesstag machte sie nicht den Eindruck, als geschah die Tat in einem Moment des krankhaften Wahns. Doch wie schuldfähig ist ein Mensch in einem solchen Moment, wo die Welt über einem zusammenbricht und man nicht mehr in der Lage ist, sein eigenes Handeln zu steuern? Darüber wird das Gericht Ende des Monats zu befinden haben.
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