Inneres in Bewegung bringen
Tanztherapie in Tempelhof unterstützt Persönlichkeitsentwicklung und hilft bei psychischen Störungen
Mit zerzaustem Haar und roten Wangen kommt Merle Meyer nach dem Tanzen aus dem Gymnastikraum. »Das hat so gut getan«, schwärmt die 25-Jährige. Mit der angehenden Psychotherapeutin kommen 18 weitere Teilnehmer aus der Tür. Sie wollen sich im Tanztherapie-Zentrum Berlin-Tempelhof zu Tanztherapeuten ausbilden lassen. Seit Anfang der 90er Jahre ist Tanztherapie in Deutschland als klinisches Verfahren etabliert. Es nutzt Bewegung zur psychotherapeutischen Behandlung.
Die Therapieform trägt zwar künstlerische Elemente in sich, bedient sich aber oft auch schlichter Bewegungen, die das Innenleben eines Menschen nach außen tragen. »Sie ist frei von technischen Vorschriften oder festgelegten Schritten«, erklärt die Psychotherapeutin Imke Fiedler, die seit 20 Jahren das Berliner Zentrum leitet: »So kann zum Ausdruck gebracht werden, was verbal vielleicht nie formuliert werden könnte.«
Meyer sagt: »Bei mir ist es die linke Schulter. Im Alltag spüre ich das nur leicht, aber eigentlich ist die Verkrampfung ganz schön stark.« Im Workshop »Authentische Bewegung« sei es darum gegangen, achtsam in sich hinein zu fühlen, wo Spannungen im Körper sind. Meyer erzählt, ihr aktuelles Lebensthema sei gerade das Loslassen – »den Stress, viele Grübeleien und Entscheidungen.« Im Workshop habe sie eine Wegwerfbewegung mit der Hand aus ihren Gefühlen heraus entwickelt, die das Loslassen ausdrücken soll.
Wie das auf therapeutische Weise funktionieren kann, zeigt Lucia Tischler-Weber in ihrem Film »Es bewegt mich«: Darin werden beispielsweise Patienten vorgestellt, die Schwierigkeiten haben, sich im Alltag von Anforderungen abzugrenzen. In einer Szene über Gruppentanztherapie stellen sie sich zunächst im Kreis auf, um zu spüren, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind. In einer gemeinsamen rhythmischen Übung, in der ausdrucksstark das Wort »Nein« gesprochen wird, begleitet von Fußaufstampfen und einer abblockenden Handbewegung, üben die Teilnehmer daraufhin, sich abzugrenzen.
Die Wirksamkeit der Tanz- und Bewegungstherapie, die sich seit den 40er Jahren zunächst in den USA entwickelt hat, wurde bereits bei Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Demenz oder Essstörungen nachgewiesen. Sie kann auch Ängste und Depressivität vermindern und führt zu höherem Wohlbefinden und Selbstbewusstsein, wie eine Studie der Freiburger Klinik für Tumorbiologie belegt. »Tanztherapeuten arbeiten seit einigen Jahren zunehmend in der onkologischen Rehabilitation«, berichtet Fiedler.
Allerdings gibt es auch kritische Stimmen. »Bewegung tut zwar immer gut, gerade bei Depressionen, aber als einzige Behandlungsmethode bei schweren, psychischen Störungen ist nicht zu der Therapieform zu raten«, warnt der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Zudem ist in Deutschland der Begriff »Tanztherapeut« als Berufsbezeichnung nicht geschützt. Der Berufsverband der Tanztherapeuten gibt zwar Standards für die vierjährige, berufsbegleitende Ausbildung vor, doch gibt es auch Fortbildungsangebote von wesentlich kürzerer Dauer, die weniger qualifizieren.
Als ergänzendes Element kann Tanztherapie auch in einer normalen Tanzschule zum Einsatz kommen: Bei »La Mambita« in Berlin-Kreuzberg gibt Bettina Cabrera Pedroso seit vielen Jahren Salsa-Kurse. In ihren Kursen lernen Frauen, sich auf der Tanzfläche wohlzufühlen. Heute sind es ungefähr 20 Schülerinnen, die in drei Reihen im Spiegelsaal stehen, erst einmal ohne Tanzpartner.
So können die zu Beginn noch ungelenk wirkenden Schulter- und Hüftkreise geübt werden, ohne dass jemand zuguckt. »Fühlt euch weiblich und attraktiv«, ermuntert die Lehrerin. Tänzer lernten, sich ihres eigenen Körpers bewusst zu werden, erklärt sie. Denn durch viel Übung ändere sich langsam aber sicher Muskulatur, Haltung – und sogar das Selbstbewusstsein.
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