Ewiger Kreislauf

»Vier Leben« von Michelangelo Frammartino

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 3 Min.

In Kalabrien gibt es noch Gegenden, in denen Mensch und Tier so leben wie im Mittelalter. Den Jahreszeiten unterworfen, in einem Maße, wie der moderne Städter es eher nicht mehr kennt. Von schlichten Überzeugungen und einem noch schlichteren Glauben zu ritualisierten Handlungen getrieben, die das (menschliche) Sterben manchmal nicht nur nicht verhindern, sondern es eher noch beschleunigen. Aber wenn an einer Stelle gestorben wird, erwacht an anderer Stelle neues Leben, auch das ein uraltes Muster, das der Mensch nur in seinen zeitlichen Rahmenbedingungen verändert hat. Und endet, und beginnt erneut.

»Vier Leben« von Michelangelo Frammartino (in italienisch-deutsch-schweizerischer Koproduktion) ist ein dokumentarisches Gedicht auf dieses Leben, Sterben, Leben, Sterben, ein Abgesang in Strophen, sprich: Kapiteln, auf den menschlichen Aberwitz, das tierische Ausgeliefertsein, den Tod eines Baumes, der einem verirrten Kitz nur höchst sporadisch Schutz bieten konnte im harten Winter, und der nun selbst nach seiner Abholzung geschmückt zum Festbaum aufgestellt wird für eine menschliche Kirmes. Und dann, zerlegt, nur totes Holz nun noch, von örtlichen Köhlern – ein archaisches Handwerk auch dies, in seinen jahrhundertealten Handreichungen wie aus der Zeit gefallen – zu Holzkohle verdichtet und damit vom pflanzlichen in den mineralischen Bereich überführt wird.

Fast könnte man glauben, der Regisseur wolle von Seelenwanderung handeln (und in der Tat zitiert er im Interview gern den in Kalabrien lehrenden Pythagoras und die von seinen Anhängern weiterverbreitete Idee der Metempsychose), wenn er am Anfang einen alten Schäfer sterben lässt, der, unentdeckt noch von der menschlichen Gemeinde, schon kalt in seinem Bette liegt, an dem seine nun nicht mehr behüteten Ziegen die Totenwache halten. Und parallel die Geburt des Zickleins einfängt, das später auf der Weide den Anschluss an die Mutter verlieren wird und sich allein in der kargen Landschaft wiederfinden. Und unter dem Baum Schutz suchen, der im Frühling darauf zum Festbaum wird, nun selber sterbend, und dann, als Holzkohle im Dorf verteilt, den Menschen Schutz bieten vor dem bitteren Winter.

Der Schäfer, krank schon, glaubte so sehr an die Heilkraft »heiligen« Staubes vom Boden am Altar seiner Dorfkirche, dass er ihn tagtäglich heimlich (denn selbst die katholische Kirche sieht solchen Aberglauben nicht gern) im Tausch gegen eine Kruke Ziegenmilch erwarb und zu sich nahm wie Medizin. Und wahrscheinlich gerade damit seinen Tod beschleunigte – auch wenn der ihn hier, da wird der Regisseur selbst zum Abergläubler, just an dem Tag ereilt, als das kostbare Pulver ihm verloren ging, bevor er es einnehmen konnte. Zicklein und Tanne haben wenig mit ihrem eigenen Ableben zu tun, es geschieht ihnen (und die quäkenden Suchrufe des verlassenen Zickleins nach seiner weitereilenden Mutter wird man lange nicht vergessen), einfach deshalb, weil sie Teil eines Zyklus sind, im Film ganz wie im wirklichen Leben.

Der Kreislauf des Lebens, beobachtet von einer meist leicht überhöhten Warte, mit Abstand, aber auch mit Anteilnahme – und mit gelegentlichen Momenten einer höchst vergnüglichen stillen Absurdität, die an die hohe Kunst von Jacques Tati erinnern. Die lange Sequenz der Kreuzigungsprozession Christi zum Beispiel, in der ein Kind, ein Hund, ein Kleinlaster, etliche Dorfbewohner in neutestamentarischer Kostümierung und der eine oder andere Stein jedes ihre eigene Rolle spielen, die sich zu einem Ausbruch stillen Chaos zusammenfügen. Die einstmals üblichen, noch deutlich archaischeren, ungleich blutigeren Aspekte der Zickleinopferung beim Fest, zu dem der Baum gefällt, geschmückt und vorübergehend neu errichtet wird, die dagegen erspart uns Frammartino glücklicherweise.

Fotos: Verleih

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