Vom Verhängnis des Fleisches
Im me Collectors Room Berlin provoziert die Ausstellung »Alles Kannibalen?«
Das Thema ist delikat fast im doppelten Wortsinn. Da kursieren fatale Redewendungen: Ich hab dich zum Fressen gern; man möchte jemanden mit den Augen verschlingen. Da einverleibt man sich in der christlichen Kirche bei der Eucharistiefeier den Corpus Christi per Hostie und Wein. Da tauchen in griechischen Sagen wie deutschen Märchen verschlingende Monster auf, wie sie Bosch und Breughel malend Gestalt werden ließen. Da fertigt man in Mexiko essbare Totenköpfe aus Marzipan, erinnert man sich der fäkalischen Gelage eines Marquis de Sade, werden in Marcus Clarkes Roman »Lebenslänglich« aus Gestrandeten in ihrer Not Menschenfresser, schaudert einen angesichts pervertierter KZ-Praktiken der Nazis: Lampenschirme aus Menschenhaut. Sind wir am Ende doch mehr oder weniger eingestandene Kannibalen? Das jedenfalls postulierte 1993 Claude Lévi-Strauss in einem Zeitungsartikel.
Kuratorin Jeanette Zwingenberger ging dieser Frage nach und wurde auf überraschende Weise fündig. Was ihr da so unter die Finger geriet, zeigt sie im me Collectors Room Berlin, eingebettet in die Exponate der Wunderkammer Olbricht. »Alles Kannibalen?« nennt sie vorsichtig fragend die Kollektion und weiß, dass sie damit ein heißes Eisen anpackt. Nicht nur wegen der realen Fälle von Kannibalismus aus jüngster Zeit, sondern auch wegen der auf Gewalt als Sensation zielenden Filme auf allen TV-Kanälen.
Zumindest kann die Kuratorin mit den 100 Exponaten von über 40 Künstlern nachweisen, dass es sonderbare Darstellungen bereits seit altersher gibt. Auf einem Ölgemälde von um 1500 säugt Maria ihr Kind mit den lustvoll überkreuzten Beinchen; von der Kommode daneben fällt gerade ein Messer – wen soll es treffen? Ein winziges, wohl später zu datierendes Kruzifix von anonymer Hand flankieren zu beiden Seiten je zwölf Totenköpfchen. Nicht zu reden von Exponaten wie einer Kannibalengabel und der Schale für rituelle Festmähler. Sie wie weitere Originale entstammen einem Kulturkreis, der sich unseren Wertvorstellungen entzieht. Die kolonial konnotierten Postkarten von Kannibalen etwa der Fidschi-Inseln um die Gründerzeit und erst recht die Fotos der äußerst bedenklichen »Völkerschauen« helfen nicht weiter. Warum aber kehren seit gut einem halben Jahrhundert viele Künstler zum Thema Kannibalismus zurück, umspielen es auf ihre Weise?
Eine Antwort weiß die Ausstellung freilich nicht, weil es sie nicht gibt. Jeder Betrachter ist hier auf sich geworfen, muss auf den Widerklang der Exponate verschiedener Genres in sich lauschen. Zu Eingang der auf verschiedene Räume aufgeteilten Ausstellung hängt gewaltig Polly Morgans Lüster, den jede Menge aufgespießter Vögel »zieren«. Einen Endpunkt bildet Renato Garza Cerveras Gehäuteter aus Kunstmaterialien, der an Tigerfelle als Bettvorleger gemahnt. Dazwischen bietet die Wanderung, was anregt, amüsiert, abstößt und nachdenklich stimmt.
Erstickt Will Cottons Gemälde »Consuming Polly« den Akt des Essens dezent in Schaum, wird Saverio Lucariello konkreter: Sein Chromodruck drapiert auf einer Festtafel vor düsterem Rot zwischen Fischstücken und Seegetier auch Menschenköpfe. Aida Makoto serviert essbare artifizielle Mädchen: verpackt und mit Paprika gewürzt, auf Salatblatt tranchiert, die Köpfe in Weinlaub, gerollt zum Mops. Bei Chen Fei stochert in eleusinischem Gefilde ein Trödler in den Eingeweiden eines Wassertoten herum; in Frédérique Loutz Collage »Hansel & B-Rätsel« gerinnt das Märchen zu Brezeln aus Armen; auch auf Chantalpetits Diptychon »Festmahl der Götter« wird gegessen, Kopf mit Goldgloriole und Innereien. John Isaacs setzt seinen Schlipsträger mit keimender Kartoffel als Kopf umgehbar auf ein Podest; Michael Borremans zeichnet Verpackung und Empfang eines Geschenks: kartongerecht beschnittenes Haupt.
Wie viele andere Objekte genügt auch Ralf Ziervogels Serie von Blättern zu Phantasmen um Sex, Verstümmelung, Traum höchstem Kunstanspruch, hat Toshio Saekis Siebdruck einer Enthaupteten mit Baby, die einem Knaben mit ihrem Kopf hinterhereilt, fast den Schwung des Jugendstils. Sandra Vasquez de la Horras Santa Agata, die ihre abgeschnittenen Brüste wie speiende Vulkane hochhält, zitiert die Gräuel des Terrors in Chile, wie in der Ausstellung immer wieder hintergründig als Sexobjekt gemeinte Madonnen in Foto und Malerei auftauchen. Oda Jaunes Wandteller mit der Abbildung blutiger Organe torpedieren den Appetit, zu den wohl zynischsten Werken rechnet Blalla W. Hallmanns Ölbild mordender Erwachsener, die am Kopulierspiel ihrer Kinder Anstoß nehmen. Zu entdecken sind auch: Originale von Goya, Grandville, Ensor, Redon bis hin zu Arbeiten von Norbert Bisky.
Bis 21.8., Auguststr. 68, Mitte, Telefon (030) 86 00 85 10
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