Die Oberfläche, die Egoisten
Kleine wahre Lügen von Guillaume Canet
Das ist es! Jetzt kommt großes Kino, das vom Feinsten, das ganz auf die ureigene Suggestionskraft des Mediums Film setzt, so der Eindruck zu Beginn, so, wie es sich gehört, warum sonst sollte man ins Kino gehen. Einfach brillant, diese ersten Filmminuten: Der Mittdreißiger Ludo, zunächst nur eine Stimme auf der Tonspur, stürzt sich mit wütend vorgespielter Lust ins drogengeschwängerte Amüsierdunkel und -glitzern einer Disco, Freunde sind dabei. Kurz darauf, der Morgen dämmert schon in den leeren Straßen von Paris, besteigt er, kaum fahrtüchtig, sein 80er Motorrad. Und hier schon ist es für den Zuschauer leider fast vorbei mit der herzklopfenden Erwartung. Denn dass Ludo spätestens nach der dritten Ampel, die für ihn jedes Mal knapp, gerade so auf Grün schaltet, im Leinwandschwarz und Blechgeknall eines Unfalls enden würde, war vorhersehbar.
Ludo (Jean Dujardin) – dann fast nicht mehr ansprechbares Bündel Elend auf der Intensivstation in einem Pariser Krankenhaus – wird im Folgenden nur noch als schlechtes Gewissen der Freunde, die ohne ihn in die alljährlichen gemeinsamen Sommerferien fahren, anwesend sein. Und das heißt hier für Handlung wie Clique: gar nicht. Da wird's wiederum, den Film als Ganzes betreffend, noch einmal interessant. Wer sind diese jungen Leute, denen das Ritual eines Gratisurlaubs am Meer im Anwesen des wohlhabenden älteren Max wichtiger ist, als Ludo beizustehen und die Verantwortung gegenüber dem Todgeweihten wahrzunehmen?
Guillaume Canet, Drehbuchautor und Regisseur, beobachtet diese Handvoll Egoisten samt Anhang (einige weniger konturierte Figuren) ausgiebig beim Badespaß, bei stimmungsvollen Abenden mit viel Rotwein, beim Motorbootfahren, bei Ausflügen zu einem Austernfischer, bei scheintiefschürfenden Liebst-du-mich-liebst-du-mich-nicht-Gesprächen, beim Organisieren und Zelebrieren gepflegter Langeweile also. Die ist so quälend, da jegliche Beziehung untereinander nur Fassade, schöner Schein bleibt, wohl auch, weil keiner wirklich in sein Innerstes schaut. Jeder der Gruppe aber hat ein Problem. Doch was für eins.
Marie (Marion Cotillard), die Lebenshungrige, leidet an ihrer Bindungsunfähigkeit. Antoine (Laurent Lafitte), der von seiner Freundin per SMS hingehalten wird, leidet an mangelndem Selbstbewusstsein. Eric (Gilles Lelouch), der auch von Berufs wegen Schauspieler ist, versteckt sein Leiden an den Absagen all der schönen Frauen, die er gern in seinem Bett hätte. Max (François Cluzet), der mit einer gut geerdeten Frau verheiratet ist, leidet am Nichteingeständnis seines Schwulseins und der Familienvater Vincent (Benoît Magimel), der als Chiropraktiker und Hobbyfußballer gern Körperkontakt mit Max hat und ihm seine Liebe gesteht, an dessen schroff-ängstlicher Zurückweisung.
Als Zuschauer allerdings leide ich an der Unerheblichkeit der Leidensgründe, das mag vom Regisseur so gewollt sein. Er lässt zwar – sehr realistisch – jeden der Truppe als Trauerredner lediglich um sich selbst kreisen. Doch was als Tragik transportiert werden soll, bleibt Behauptung. Einfach weil er mit überbordendem Aufwand – an verliebter, dynamischer Kamera, dröhnender Feel-good-Musik und lehrbuchhaft überdeutlichen Wechseln zwischen langsamem und forciertem Tempo – sein Schwelgen in Oberflächlichkeit zu derart Ernsthaftigkeit steigert, dass sie Distanz zu den Protagonisten unglaubwürdig macht. Die Totalen vom weiten, breiten, sonnengleißenden Meeresstrand wirken anbiedernd wie Reiseprospekte. Das sommerliche Luxusquartier ganz aus edlem, hellen Holz, das, sommertrocken und heiß, ein knisterndes Ambiente für Beziehungsknatsch abgeben sollte, es bleibt hübsche, aber sehr stumme Dekoration. Und was die Schar vorgeblicher Freunde eigentlich zusammenhält – man erfährt es nicht.
Die Schauspieler – allesamt hervorragend (und nicht umsonst war der Film in Frankreich mehrfacher Besuchermillionär) stellen ihr Spielen zu sehr aus, allen voran François Cluzet und Benoît Magimel. Sie verkörpern übrigens die einzigen Figuren, die wirklich einen Konflikt auszutragen haben und absolvieren als Einzige das bisschen Witz und Sarkasmus, das dem Film die Genrebezeichnung Tragikomödie sichern soll. Oscar-Preisträgerin Marion Cotillard hat es dem Regisseur – auch im realen Leben – so sehr angetan, dass er sie im Ensemblespiel der zahlreichen Hauptdarsteller ohne handlungsverpflichtete Notwendigkeit bevorzugt. Will er eine zweite Romy Schneider aus ihr machen? Sie bzw. er schafft es nicht.
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