Mauertour mit Dampfer und Matjes
Bei einer Fahrt auf der Spree wird die Geschichte von Todesopfern an der Grenze erzählt
In der Arena sind heute Konzerte zu erleben. Früher befanden sich hier Werkstätten der (Ost-)Berliner Verkehrsbetriebe. Das alte Gebäude steht in Treptow am Ufer der Spree. Neben dem Haus verläuft ein Kanal, der in die Spree mündet. Dieser Kanal gehört schon zu Kreuzberg. Nach dem Mauerbau 1961 sind allein an dieser Stelle 30 Menschen in den Westen geflohen, darunter fünf Grenzsoldaten und 18 Betriebsangehörige. Die letzte Flucht glückte im Februar 1988. Danach sorgten die Grenztruppen dafür, dass oben auf dem Dach ein Laufgang für Grenzposten installiert wurde, um den Kanal einsehen zu können. Noch lieber wäre den Militärs ein Abriss des Hauses gewesen. Aber dazu kam es nie.
Der Laufgang befindet sich heute noch auf der Arena. Allzu viele Spuren der Teilung der Stadt gibt es nicht mehr. Natascha Mrugowski, freie Mitarbeiterin der Gedenkstätte Berliner Mauer, zeigt sie bei einer Dampfschifffahrt auf der Spree. »Mauergeschichten« heißen die Touren der Reederei »Stern und Kreis«. Die Strecke ist neun Kilometer lang. Davon führen 4,5 Kilometer direkt an den ehemaligen Sperranlagen vorbei.
Los geht es gleich am Treptower Hafen. Bis 1990 durften die Ausflugsdampfer der (Ost-)Berliner »Weißen Flotte« nur zum Müggelsee hin ablegen. Die andere Richtung blieb für sie gesperrt, denn gleich unter der Elsenbrücke begann das Grenzgebiet. Die Elsenbrücke selbst hätte es ohne die Mauer nie gegeben, erzählt Mrugowski. Die Brücke sei erst 1968 gebaut worden, um den Verkehr umzuleiten. Vorher habe in der Gegend nur eine kleinere Brücke gestanden. Die Mauer, das größte Bauwerk Berlins, sei eine »logistische Meisterleistung« gewesen.
»Ich weiß, sie haben Freizeit«, spricht Mrugowski die Fahrgäste an. Sie möchte die Leute nicht überfrachten mit Jahreszahlen und anderen Daten. Leicht verdaulich sind die Informationen aber keineswegs, die den Ausflüglern zu Matjesfilets oder anderen Gerichten serviert werden.
So berichtet die Frau von der Gedenkstätte von den fünf Jungen aus Kreuzberg, die bis 1975 in die Spree gefallen und ertrunken sind. Der letzte, der fünfjährige Türke Cetin Mert, wollte einen Ball aus dem Wasser fischen. Den Grenzsoldaten auf den Patrouillenbooten sei es unmöglich gewesen, die Kleinen zu retten. Dazu hätten sie dicht ans Westberliner Ufer fahren müssen. Man hätte das auf den Wachtürmen als Fluchtversuch missdeutet und das Feuer eröffnen können, heißt es. Nach Cetins tragischem Unfall sei es Westberliner Polizisten erlaubt worden, Ertrinkende aus der Spree zu ziehen.
Insgesamt kamen an der Berliner Mauer mindestens 136 Menschen ums Leben, darunter acht Grenzsoldaten, die von Kameraden, Fliehenden oder ihren Helfern, oder von der Westberliner Polizei erschossen wurden. Als erstes Todesopfer gilt Günter Litfin aus Weißensee. Der 24-Jährige absolvierte eine Lehre in einer Maßschneiderei nahe des Bahnhofs Zoo. Zwar hatte er sich schon vorsorglich eine Wohnung in Charlottenburg gesucht. Gemeldet war er dort aber noch nicht. Der Mauerbau hat ihn am Ende doch überrascht. Am 24. August versuchte er, von der Charité durchzubrechen. Er sprang ins Becken des Humboldthafens und reagierte nicht auf die Rufe der Posten, die dann das Feuer eröffneten. Litfin wurde tödlich in den Hinterkopf getroffen.
Natascha Mrugowski gibt während der Dampferfahrt Karten herum, auf denen Grenzübergänge eingezeichnet sind, außerdem Orte, an denen Menschen starben. Dazu machen alte Fotos die Runde. Es beginnt zu regnen. Die Frau schildert derweil die historischen Ereignisse. Dabei hält sie sich zumeist an die Fakten. Das ist wohltuend. So kann sich wenigstens jeder selbst seine Meinung bilden. Ältere haben oft schon eine. Jüngere wollen sich erst einmal informieren. So ist eine Frau mit ihrem 13-jährigen Neffen an Bord. Der Junge hat sich die Fahrt gewünscht, um etwas über die Mauer zu erfahren. Als er geboren wurde, stand sie schließlich bereits nicht mehr. Der Tante gefällt der sachliche Vortrag Mrugowskis gut. »Ich höre ihr gern zu«, sagt sie. Dem Neffen kann sie auch selbst etwas berichten.
So erinnert sich die Tante an die Jahre 1973 bis 1987. Damals arbeitete sie bei Bergmann-Borsig in Wilhelmsruh. Der Betrieb befand sich im Grenzgebiet. Wer seinen Ausweis verschusselte, musste Urlaub nehmen und sich schnell neue Papiere besorgen. Ohne führte kein Weg hinein in diesen Betrieb. Mit den Grenzsoldaten verstanden sich die Beschäftigten meistens gut. Einige Frauen kochten ihnen Kaffee. Doch manchmal gab es Verstimmungen – wenn Arbeiter die Hunde extra fütterten. Das sollte nicht sein, weil es die Tiere träge machte. Sie passten dann nicht mehr scharf genug auf.
Nach etwa dreieinhalb Stunden legt der Dampfer am Treptower Hafen an. Eine Erklärung für den Mauerbau hat es nicht gegeben. Um den Kalten Krieg ging es zwar, aber der Begriff ist nicht vorgekommen. Die Fahrgäste gehen an Land und lächeln zufrieden. Immerhin scheint jetzt die Sonne.
Stern und Kreis GmbH, Tel.: 536 36 00, www.sternundkreis.de
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