In der Vertiefung, im Verborgenen

5. Höhler Biennale in der Otto-Dix-Stadt Gera – Kunst unter der Altstadt

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 5 Min.
Gefangen unter der Erde: »Schwarm« von Ilka Raupach, Installation mit 200 Mauerseglern aus Porzellan
Gefangen unter der Erde: »Schwarm« von Ilka Raupach, Installation mit 200 Mauerseglern aus Porzellan

Nein, wie die documenta in Kassel oder die Biennale in Venedig wird sie noch nicht wahrgenommen. Die Höhler-Biennale in Gera, bei der sich Kunst, statt in Ausstellungshallen, Pavillons und Parks, unter der Erde abspielt, ist aber auf dem Weg dazu. Oder sollte es sein, wünscht sich, wer erlebt hat, was hier bildende Künstler im Zweijahresrhythmus in der Unterwelt der thüringischen Stadt aufführen. Noch aber ist die Tradition so kurz, dass jede Beschreibung erst einmal mit der Erklärung beginnen muss, was Höhler eigentlich sind.

Nun, es sind, kurz gesagt, ehemalige Bierkeller. Also Keller unterm Keller, in Gera bis zu elf Meter tief gelegen. Eine Besonderheit auch anderer deutscher Städte aus der Zeit privaten Braurechts im 18. Jahrhundert. Weil Wasser zu trinken, zumeist geradezu lebensgefährlich war, wurde Bier zum Lebensmittel, selbst für Kinder. Die Lager für die Fässer – nicht also Bauch der Stadt, sondern gewissermaßen Kehle – strecken sich unter den Bürgerhäusern Geras grundstücksgrenzenlos, kilometerweit und zigfach verzweigt.

Viele Höhler sind zugänglich – und eben derzeit von zeitgenössischer internationaler Kunst »unterwandert«, mit den Räumen im nischen- und gewölbereichen Labyrinth unter der Altstadt im unmittelbaren Wechselspiel. Das ist absolut einzigartig, das gibt's nirgendwo. Diesmal heißt das Thema beziehungsvoll UNTERwelt, mit Betonung auf »Welt«.

Also los. Es geht tief hinunter, empfindlich kalt wird es und ziemlich feucht. Mal sind es wenigstens noch Stufen, mal ist es gerölliger, unebener Boden oder glitschiger Lehm, auf den man tastend seinen Fuß setzt, während man den Kopf sicherheitshalber gleich zwischen die Schultern zieht. Da und dort dringt ein wenig Licht ins Dunkel. Eng ist es, immer wieder kommt man nur in gebückter Haltung voran.

Aber ist unterirdisches Dasein nicht vielleicht schon die Vorwegnahme unserer Zukunft? Jedenfalls die Installation des Hallensers André Kestel im Höhler unter dem Gebäude der Geraer Bank suggeriert solch Szenario. Kestel spielt mit der These, dass zukünftige Generationen ihr Überleben unter der Erdoberfläche werden sichern müssen. Sein »Anbaulabor« »Pep 2837« mit riesigen rot und gelb leuchtenden Fruchtchimären in Form von Flaschentomaten weisen denn auch hohe Werte in Pilz-, Virusresistenz und Herbizidtoleranz auf.

Für »Pilzbefall« wiederum hat Helmut Massenkeil aus Aschaffenburg im Höhler unterm Pressehaus gesorgt. Und dieser ist ein Genuss, ein ästhetischer. Die champignon-artigen Gebilde, die sich am Boden und am steinernen Gewölbe gruppieren, sind abwechselnd in warmes und kaltes Licht getaucht, begleitet von verschiedenen Klangfolgen, und assoziieren die Ambivalenz der Eigenschaften von Pilzen.

Ebenfalls nicht uneingeschränkt positiv erscheint die fantastische »Löffelrebe« des Chinesen Yi Zheng Lin. Welch wunderbares, farbenprächtig aufleuchtendes Gewächs hat er da aus simpelstem Material, aus flexiblem Plasterohr und unzähligen Wegwerf-Plastiklöffeln, gezaubert! Doch täuscht vielleicht der Anblick, und das Ganze entpuppt sich eine Weile später als ein tentakelbesetztes Ungeheuer, das jeden Moment zuschnappen kann? Gedanken an Tod und Vergänglichkeit bewegt, wer vor jener Nische angekommen ist, in der Matthias von Hintzenstern und Angelika Kühn von Hintzenstern ihre Raum-Klang-Licht-Installation ein-

gerichtet haben. Dass man dem dazugehörigen schwebenden Sarg – das heißt: einer luftigen Konstruktion aus Stäben, die Umrisse andeuten – per Pedal einen Tritt verpassen kann und damit das sprichwörtliche Sich-im-Grabe-Umdrehen praktisch auslöst, das ist dann zum Glück nur ein Spaß. Ein Spaß für Gruftis, aber nicht nur für sie. Lustig (und mit grandiosem Guckloch versehen) war auch das eindringliche »Klagelied eines austrocknenden Trinkwasserrohres«, mit der der Thüringer von Hintzenstern schon vor zwei Jahren meisterhaft die ganze Klaviatur der Installationskunst in den Höhlern bespielte. In diesem Jahr soll erstmals ein Installationskunstpreis vergeben werden, übrigens der erste deutschlandweit. Ob die von Hintzensterns unter den Auserwählten sein werden?

Der Parcours in Gera ist lang und kurzweilig. Der Unterwelterkunder kann überdies gewiss sein: »Alle Wege führen nach Rom«. Dieser Satz findet sich als Titel einer assoziationsträchtigen Installation, die ihn wörtlich nimmt. Klaus Nerlich, in Erfurt geboren, wo vor 500 Jahren Martin Luther eine Zeit lang als katholischer Mönch lebte und sich dann eben am Papstsitz aufhielt, hat wohl einen guten Bezug dazu. Die Annäherung an sein Kunstwerk beginnt mit einer Irritation, und die ist bezweckt: Es ist, kurz vorm Eingang zu einem Höhler – ebenerdig. Nerlich »verweigert« dem Besucher nicht nur den erwarteten Abwärtsgang, er lässt ihn auch noch in nichts Geringeres als ins Pantheon eintreten. Zumindest als Gedankenreise: Auf Nerlichs Kubus ist die räumliche Darstellung des römischen Bauwerks in Miniatur aufgedruckt. Tja, sagt sich der überraschte Möchtegern-Unterirdler, wohin sonst sollte eine solche Reise auch gehen: In diesem antiken Gebäude treffen sich Gott und die Welt.

Die Kunst der Höhler-Welt ist auch in diesem Jahrgang eine Gegenwelt zum Oberflächigen, dem oberflächlichen Alltag oben im Tageslicht. Die Erlebnistour lässt sich nicht als bloßer Jux dank des Grusels, der auf dem ungewöhnlichen, unsicheren Ort beruht, abtun – wiewohl es durchaus vorkommt, dass man einem bösen Geist begegnet (hervorragend: »Seelenfänger« des Braunschweigers Michael Nitsche). Spielerisches ist zu finden, Erzählerisches, Appellatives, Ironisches, Paradoxes, Schockierendes. Immer alle Sinne ansprechend, die Fantasie des Besuchers auf ungeahnte Reisen mitnehmend, Besinnlichkeit, Nachdenklichkeit und zum Teil auch Mittun provozierend; thematisch anspruchsvoll, von künstlerisch überzeugendem Niveau ist es allemal.

Von vornherein so intensiv, wie es in den Höhlern geschieht, ist die Auseinandersetzung mit Kunst wohl nirgendwo sonst. Nicht vergleichbar mit dem Besuch eines Museums, einer Galerie oder dem Blick aufs Bild an der Wohnzimmerwand. Die Arbeit der Koreanerin Jeong-Eun Lee wird im Laufe der nächsten Wochen gar verschwinden: durch die Ab-Tritte der Besucher auf den Umrisslinien von Opfern von Gewaltverbrechen.

Wo Sinne und Verstand zugleich geschärft werden, herrscht auch der Geist vom großen Sohn der Stadt Gera: Otto Dix. Sein Vermächtnis ist im Dix-Jubiläumsjahr mit der Höhler-Biennale gut aufgenommen.

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