Mythen der Moderne

»Once upon a time«: Deutsche Guggenheim zeigt fantastische Video-Märchen

  • Anouk Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.
Tänzerischer Fluchtversuch aus der modernen Arbeitswelt: Szene aus Cao Feis Video »Whose Utopia«
Tänzerischer Fluchtversuch aus der modernen Arbeitswelt: Szene aus Cao Feis Video »Whose Utopia«

Unendlich dehnt sich die Fabrikhalle unterm grellen Neonlicht. Zu zart perlendem Klavierspiel dreht sich ein beflügelter Engel inmitten von Maschinen; ein älterer Mann im Osram-Arbeitsoverall gleitet in einer Art schwerelosem Moonwalk zwischen langen Reihen gebeugter Rücken dahin, die Arme imitieren Flügelschläge. Vielleicht würden sie am liebsten alle davonfliegen, die Menschen, die in Cao Feis Video »Whose Utopia« ernst in die Kamera blicken – weg vom unbarmherzigen Rhythmus der Maschinen, weg aus den winzigen Schlafkojen?

Darauf gibt dieses wunderbare Video, Höhepunkt der Ausstellung »Once upon a time« im Deutschen Guggenheim-Museum, keine direkte Antwort. Doch die Art und Weise, wie die Medienkünstlerin Cao Fei in ihrem dreiteiligen Film die Träume von chinesischen Fabrikarbeitern einer Osram-Leuchtmittelfabrik in Guangzhou mit deren Lebenswirklichkeit kollidieren lässt, legt diese Annahme zumindest nahe. Poetischer kann Kapitalismuskritik nicht ausfallen!

Diese Verschmelzung von Dokumentation und magischem Realismus á la »Metropolis« ist beispielhaft für die sechs Beiträge dieser großartigen Schau. Wie der Titel (zu deutsch: »Es war einmal«) schon andeutet, soll untersucht werden, wie zeitgenössische Videokunst mittels Erzähltechniken aus Märchen und Mythen aktuelle gesellschaftliche Phänomene reflektiert. Doch wer hier direkte Bezüge auf die Gebrüder Grimm oder Andersen erwartet, wird enttäuscht: Die gezeigten Arbeiten hinterfragen die Entfremdung in der industriellen Arbeitswelt oder die Schaffung kollektiver Mythen.

So wie die Mondlandung 1969, eines der ersten medialen Großereignisse, welche die polnische Künstlerin Aleksandra Mir 30 Jahre später auf ebenso witzige wie gekonnte Weise nachgespielt hat. Für ihr von dramatischer Musik und quäkenden Funkstimmen unterlegtes Video »First Woman on the Moon« ließ sie 1999 einen Strand in den Niederlanden von zahlreichen Bulldozern in eine Mondlandschaft verwandeln und bestieg bei Sonnenuntergang einen Sandhügel, um dort die US-Flagge zu hissen – unter dem Beifall von Helfern und Kindern. Man kann sich diesen Film ansehen als ironischen Kommentar zur Heldenverehrung oder als Statement zu den verbreiteten Verschwörungstheorien – Spaß macht er in jedem Fall. Auch dominiert das Werk schon durch die zentrale Lage innerhalb der Ausstellung, für die der sonst so übersichtliche Museumsraum in ein verästeltes System aus Extraräumen und Gängen verwandelt wurde, die immer wieder dorthin zurückführen.

Auch Pierre Huyghes bezieht sich auf die erste Mondlandung: In seinem Film unternimmt ein Manga-Mädchen einen virtuellen Mondspaziergang und rezitiert dabei Originaltexte des Astronauten Neil Armstrong sowie Jules Vernes. Den Betrachter lässt das eher kalt – ebenso wie Janaina Tschäpes »Lacrimacorpus«, in dem eine Tänzerin mit einer Traube Ballons um den Hals so lange um sich selbst kreist, bis sie umkippt. Gedreht wurde in Schloss Ettersburg nahe dem KZ Buchenwald, doch diese Information lässt das konstruierte Werk auch nicht tiefgründiger erscheinen.

Was hier nicht gelang, eben einen Mythos zu erschaffen, schaffte der in Mexiko lebende belgische Künstler Francis Alys: Für seine Videoarbeit »Wenn der Glaube Berge versetzt« ließ er 500 Freiwillige in Peru nur mit Schaufeln eine 200 Meter lange Sanddüne um zehn Zentimeter versetzen. Die Bilder der wie Ameisen unter glühender Sonne schuftenden Männer beschwören den Vergleich mit Sisyphos herauf. Und gleichzeitig ist dieser nutzlose Kraftakt sowohl eine Metapher für die Macht des Willens als auch für die Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben in die peruanische Hauptstadt strömen und dort jeden Tag ums Überleben kämpfen.

Einen würdigen Abschluss der Schau bildet Mika Rottenbergs vielschichtiges Video »Dough«: In einer absurden Teigfabrik lenken grotesk dicke, lange oder dünne Arbeiterinnen, eingezwängt in winzige Raumzellen, einen riesigen Zopfteig über Fließbänder und durch Schächte, wobei die Maschinen durch Muskelkraft, Schweiß und Tränen angetrieben werden. Eine Reminiszenz an Chaplins »Moderne Zeiten«, zumal der Zuschauer selbst ähnlich beengt in einer klaustrophisch anmutenden Holzkonstruktion hockt. Großartig!

Bis 9. Oktober, 10-20 Uhr, Deutsche Guggenheim, Unter den Linden 13/15, Tel.: (030) 20 20 93-0

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