Fenster zur Psyche

In der Galerie C/O Berlin gewährt der Fotograf Gregory Crewdson Einblicke in mysteriöse Welten

  • Jenny Becker
  • Lesedauer: 4 Min.
In den Räumen vom C/O Berlin rutschen die Besucher auf den Knien. Sie haben sich auf den Boden gehockt, um die großformatigen Fotos an den Wänden ganz genau betrachten zu können. Bei einigen ist die Faszination so groß, dass sie mit den Nasen fast die unverglasten Bilder berühren. Der amerikanische Fotograf Gregory Crewdson versteht es, die Menschen zu fesseln.
Beunruhigende Idylle: »Sunday Roast« von Gregory Crewdson
Beunruhigende Idylle: »Sunday Roast« von Gregory Crewdson

Zum ersten Mal sind seine Fotos nun in Berlin zu sehen. Die Ausstellung »In a Lonely Place« vereint drei Serien aus unterschiedlichen Schaffensperioden: »Fireflies« (1996), »Beneath the Roses« (2003 bis 2007) und »Sanctuary« (2010). Sie erzählen vom Mysteriösen unter der Oberfläche des Alltags.

In seiner bekanntesten Serie »Beneath the Roses« befasst sich Crewdson mit der amerikanischen Vorstadtidylle. Doch von Beschaulichkeit ist keine Spur, die Orte wirken bedrohlich, auf leeren Straßen stehen Menschen und starren vor sich hin. Sie wirken verloren, wie Schlafwandler, die magisch von etwas Unbekanntem angezogen werden.

Auf einer Kreuzung steht ein Auto an der Ampel. Die Straße ist mit Schnee bestäubt, das Auto hat einen frischen Reifenabdruck hinterlassen. Im Zwielicht sind keine Wolken zu erkennen, es hat schon vor einer Weile geschneit. Seltsam ist darum der Mann, der mit hängenden Armen unter dem Dachvorsprung des Kinos steht. Er hat keine Fußspuren hinterlassen. Angewurzelt steht er da – wie lange schon?

Crewdsons Fotos sind Seelenbilder, Fenster in die eigene Psyche. Denn was durch die aufwendigen Inszenierungen sichtbar wird, ist unsere eigene Fantasie, die sich nicht zuletzt aus unzähligen Filmen speist. Der Fotograf nutzt Bezüge zu Kinomythen, manch einer wird sich an Filme von David Lynch oder Steven Spielberg erinnert fühlen. Doch die Betrachtung funktioniert auch ohne Expertentum. Die Fotos sind von sich aus kinematographisch, in jedem Bild verdichtet sich ein ganzer Film, dessen Handlung sich nie ergründen lässt.

Durch die Größe und Schärfe der Fotografien fühlt es sich oft an, als befände man sich mit den Figuren auf den Straßen, in den Gärten oder Wäldern. Überhaupt erstaunt die Präzision: »Das sieht aus wie fotorealistische Malerei«, sagt ein Mann, der gerade das Bild eines Esszimmers betrachtet. Die leuchtenden Farben stehen im Kontrast zu der bedrückenden Stimmung. Es ist für vier Personen gedeckt, doch um den Tisch sitzen nur eine Frau und ein Junge. Beide blicken aneinander vorbei. Auf wen warten sie? Was ist passiert?

Die Besucher grübeln nicht nur über die merkwürdigen Geschichten, sondern auch über die technische Raffinesse. Etwa über dieses seltsame Licht in den Bildern. Der Flur zwischen den Ausstellungsräumen gibt Aufschluss. Hier wird gezeigt, was hinter den Kulissen passierte. Denn für »Beneath the Roses« betrieb Crewdson einen ungeheuren Aufwand. Ganze Filmsets wurden gebaut, Schneemaschinen und Lichtkräne heran gekarrt, Schauspieler mussten tagelang in vollendeter Ausdruckslosigkeit verharren. Die Verbindung von Film und Fotografie, die Crewdson interessiert, wird hier besonders deutlich.

Ein ganz neuer Zugang zum Medium Film zeigt sich in »Sanctuary«. In schwarz-weißen Dokumentarfotos von einer verlassenen Filmstadt in Rom macht Crewdson die Illusionstechniken des Kinos selbst zum Thema. Menschen sind fast nie zu sehen. Vor einem italienischen Wohngebiet stehen Stützkonstruktionen von Fassaden und Reste von Tempeln, ein halbes Boot liegt mitten in der Stadt auf einem überwucherten Platz. Auch hier ist es der Kontrast zwischen Realität und Fiktion, Bekanntem und Rätselhaften, dem der Fotograf nachspürt.

Ebenfalls untypisch dokumentarisch ist die älteste Serie der Ausstellung, »Fireflies«. Einen Sommer lang hat Crewdson Glühwürmchen fotografiert und versucht ihr magisches Leuchten auf Papier zu bannen.

Der brüchige Charme des C/O Berlin bildet einen schönen Rahmen für die Fotoserien, die von einer morbiden Gesellschaft und vergänglichem Glanz erzählen. »Das ist ein sehr ungewöhnlicher, kraftvoller Ort«, begeisterte sich auch Gregory Crewdson. »Er fügt den Fotos noch ein paar Bedeutungsebenen hinzu.« Wie lange das Ausstellungshaus noch von diesem Flair profitieren kann, ist nicht klar. Bis Ende des Jahres ist sein Verbleib gesichert, doch ein Umzug ist unausweichlich. Wenn der neue Investor zusagt, könne man aber möglicherweise darüber hinaus in dem Gebäude bleiben, so eine Sprecherin. Auch ein Umzug in den nahen Monbijou-Park sei nicht ausgeschlossen. »Die Pläne ändern sich aber täglich.«

Für die aktuelle Ausstellung gilt, was ein Besucher verstohlen vor einem der Fotos bemerkte: »Da kann man sich einfach nicht dran satt sehen.«

Gregory Crewdson »In a Lonely Place«, bis 4.9., C/O Berlin, Oranienburger Str. 35/36, täglich 11 bis 20 Uhr, Tel.: (030) 284 44 16 61, www.co-berlin.info

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