Der Schattenmann

Der Gropiusbau präsentiert mit André Kertész einen Pionier der Kunstfotografie und Bildreportage

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 3 Min.
Geborstene Welt: Das Foto »Zerbrochene Scheibe« von 1929 zeigt den Blick auf Paris aus Kertész' Zimmer.
Geborstene Welt: Das Foto »Zerbrochene Scheibe« von 1929 zeigt den Blick auf Paris aus Kertész' Zimmer.

An Superlativen wird bei der Betrachtung des Fotografen André Kertész nicht gespart. »Poet des Alltags«, »der erste Flaneur«, mindestens aber ein ganz neuer Typ Bildkünstler wird der 1894 in Ungarn geborene Genre-Pionier heute genannt. Ebenso werden ihm von Kritikern die Erfindung der Fotoreportage sowie zahllose Innovationen im Bereich Kunstfotografie zugeschrieben. Wer die große Werkschau des 1985 in New York verstorbenen Kertész im Martin-Gropius-Bau besucht, kann diesen Urteilen nur zustimmen.

Bereits in frühen Jahren (1917) gelang ihm, noch in Ungarn, mit dem sich scheinbar im feuchten Element auflösenden »Schwimmer unter Wasser« eine heute zur Ikone geronnene Aufnahme. In jener Zeit war, neben Selbstporträts etwa als Soldat, sein Bruder bevorzugtes Motiv. Dessen theatralische Posen als Ikarus oder Satyr provozieren zwar ein Schmunzeln – die Fertigkeit des Fotografen ist aber bereits zu ahnen.

Im Paris der 20er Jahre fing Kertész nicht nur Straßenszenen ein, sondern veredelte durch Blickwinkel und Belichtung solche Alltagsbetrachtungen zu poetischen, verschatteten Meisterwerken: eine sich im Regenwasser spiegelnde Passantengruppe, ein durch eine gesprungene Fensterscheibe gesehenes Stadtviertel oder Atelierszenen bei seinen zahlreichen Freunden aus der Künstlerbohème.

Dem Spiel der Schatten, Verzerrungen und der verschachtelten, fast grafischen Architektur-Stillleben gab sich Kertész vor allem ab 1936 in New York hin. Heute als Meilensteine der Kunstfotografie definierte Werke wie die ihren Kopf zu Boden senkende »Melancholische Tulpe« oder die »Distortions« (Verzerrungen) genannten, in gewölbten Spiegeln zerfließenden Akte, stießen damals jedoch auf teils schroffe Ablehnung. Jene Zurückweisungen waren wiederum Auslöser für eine von tiefer Depression geprägte Reihe. In dieser Phase bestimmten Leere, oder – als Entsprechungen seines Seelenzustandes – auch Tauben oder vereinzelte Wolken das Werk des erklärten Vorbilds großer Meister wie Henri Cartier-Bresson oder Robert Cappa.

Kertész war ein Vagabund, ein Getriebener, ein Weltenbummler. Es macht also Sinn, dass die Kuratoren der Schau, Annie-Laure Wannaverbecq und Michel Frizot, die Ausstellung vor allem nach den Lebensstationen des Künstlers Ungarn (1824-1925), Frankreich (1925-1936) und USA (1936-1985) geordnet haben.

Zusätzliche Würdigung erhält seine Arbeit als Fotoreporter, eines Berufsbildes, das Kertész wenn nicht erfunden, so doch ab 1928 erheblich geprägt hat. Vor allem die Bildstrecken in den Magazinen »VU«, »Art et Médizine« sowie »Paris Magazine« offenbaren die mit Fertigkeit und Experimentierfreudigkeit gepaarte Neugier Kertész'. Die Reportage über ein Trappisten-Kloster etwa hat auch Jahrzehnte später noch künstlerische Gültigkeit.

Die Entscheidung der Kuratoren, möglichst viele vom Künstler selber, oder zumindest von ihm autorisierte Kopien auszustellen, hat Vor- und Nachteile. Zwar fördern die historischen Silbergelatine-Abzüge durchaus das Gefühl von Authentizität und Zeitreise. Andererseits würde man die zum Teil winzigen Bilder auch gerne – unter Einsatz modernster Technik – riesenhaft vergrößert sehen.

Bis 11. September, mittwochs bis montags 10-20 Uhr, Kombi-Ticket mit der Parallelausstellung »Schnee in Samarkant« möglich, Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7 / Ecke Stresemannstraße. 110, Tel.: (030) 254 86-0, Informationen unter www.gropiusbau.de

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