Ein Dorf wird verladen
Diepensee musste dem neuen Airport Berlin weichen. Nun sehen sich die Umsiedler betrogen
Vom Rodelberg aus hat man alles im Blick. Wie hingestreut liegen die bunten Häuser von Diepensee in den Wiesen, 60, 70 vielleicht. In der Ortsmitte, hinter dem roten Dorfgemeinschaftshaus, stehen ein paar flache Mehrgeschosser, am Südende, jenseits einer Mauer aus alten Steinen, der kleine Friedhof. Eine malerische Lindenallee zieht sich nach Norden, wo hinter einem Waldstreifen der Berliner Autobahnring liegt. Nur anderthalb Kilometer sind es bis zur A 10, doch zu hören ist jetzt nur ein sonores Brummen. Aber bislang sind dort nur Autos unterwegs – und nicht auch Flugzeuge.
Doch das Flugwesen, das entwickelt sich im Süden von Berlin. Ab Sommer 2012, wenn der neue Hauptstadtflughafen in Schönefeld öffnet, soll über der A10 in etwas mehr als einem Kilometer Höhe einer der Flugkorridore verlaufen. Und die 300 Diepenseer, deren Dorf vor sieben Jahren wegen des Flughafenbaus neun Kilometer nach Süden verlegt wurde, werden – wenn es bei der jetzigen Planung bleibt – vom Fluglärm eingeholt.
»Es ist absurd«, sagt Ortsvorsteher Helmut Mayer. »Wir konnten damals zwischen einem Dutzend Standorten auswählen. Und wir haben uns – natürlich mit Blick auf die damalige Flugroutenplanung – für diesen Platz bei Königs Wusterhausen entschieden.« Ortsbeirat Michael Gleißner spricht von Betrug und einer möglichen Klage gegen die Routen. Und wenn auch nicht jeder Diepenseer die Dinge so dramatisch sieht: Ausgetrickst fühlt man sich allemal.
Die Angst der West-CDU
Der Ortsvorsteher, ein ruhiger, freundlicher Mann von 76 Jahren, hat alle Diepenseer Turbulenzen der letzten Jahre miterlebt. Früher beim örtlichen Volkseigenen Gut beschäftigt, war er 1983 in das alte Dorf am Südrand des DDR-Flughafens Schönefeld gezogen. »Eine funktionierende Dorfgemeinschaft«, sagt Mayer. Doch Tiermast und Pflanzenproduktion, über Jahrhunderte Haupterwerbszweige in Diepensee, wurden nach 1990 bald eingestellt.
Auch auf dem Flugplatz Schönefeld nebenan gab es immer weniger zu tun, nach dem Ende der DDR-Interflug hoben dort fast nur noch Charterflüge ab. Dann jedoch wurde Berlin zur Bundeshauptstadt erklärt, die Standortsuche für einen modernen Hauptstadt-Airport begann. Es war 1994, als die Diepenseer erstmals ernsthaft mit der Möglichkeit konfrontiert wurden, dass der neue Airport die Existenz ihres Dorfes betreffen könnte.
»Wir waren gegen den Standort Schönefeld«, sagt Mayer. Tatsächlich kam beim vergleichenden Raumordnungsverfahren 1994 Schönefeld nicht gut weg, Sperenberg oder Jüterbog-Ost weiter südlich schnitten klar besser ab, schon wegen der geringeren Siedlungsdichte. Erst auf Druck der damals regierenden (West-)Berliner CDU und der Regierung Kohl, denen vor Berührungen mit der Ostprovinz offenbar graute, wurde Schönefeld favorisiert.
Immer wenn der Ortsvorsteher in sein kleines Büro im Dorfgemeinschaftshaus geht, kommt er im Foyer an einer Luftaufnahme vorbei: Sie zeigt das alte, sternenförmig gewachsene Diepensee. »Da ist der Dorfteich, hier die Dorfstraße, und da war unser Grundstück. Daneben steht heute der Turm für die Baustellenbesucher, und beim letzten Besuch konnte ich die Grundstücksgrenze noch sehen.«
Es waren dramatische Tage für das Dorf, damals vor 15 Jahren. Als klar war, dass Diepensee künftig zwischen den Rollbahnen liegen würde, stimmten die Einwohner ab – die große Mehrheit war für Umzug, notgedrungen. Bald wurden die Diepenseer geradezu umworben, manche Kommune hoffte auf die Umzugsmitgift: mehr Steuern und ein höherer Finanzausgleich, dazu der infrastrukturelle Schub durch den Neubau eines ganzen Ortsteils. Mit Bussen fuhren die Diepenseer etliche Standorte ab, 1998 sprachen sich die meisten für eine frühere Agrarfläche bei Königs Wusterhausen aus – wegen der günstigen Infrastruktur der früheren Kreisstadt, aber auch wegen der Entfernung zum neuen Airport und den Flugrouten.
Und plötzlich neue Flugrouten
»Wir haben klar gesagt: Wenn schon Umzug, dann an einen Platz ohne Fluglärm«, sagt Mayer. Seitens der Flughafengesellschaft und des Landes Brandenburg seien damals Landkarten präsentiert worden, auf denen die Flugrouten in Verlängerung der Startbahnen geradeaus gingen – zum neuen Dorf bei Königs Wusterhausen blieb danach ein Abstand von mindestens zehn Kilometern. »Man hat uns zum Vergleich sogar in einen Ort südlich des Flughafens Berlin-Tegel gefahren: So wenig wie hier, hieß es, wäre dann bei Königs Wusterhausen zu hören. Das war akzeptabel. Leider sind die Karten nicht Bestandteil des Umsiedlungsvertrages selbst.«
Also entstand ab Sommer 2002 Neu-Diepensee am heutigen Platz – mit Gemeindezentrum, Bowlingbahn, Feuerwehrhaus, Kita, Bolzplatz nebst haushohem Rodelberg, auch der Friedhof zog um. Die Straßen heißen wie früher »An der Koppel« oder »Am Flutgraben«, Steine aus der aufgegebenen Heimat wurden verbaut, die alte Dorfstruktur möglichst übernommen.
Ihren Besitz bekamen die Umsiedler ersetzt, ob Hundehütte, Apfelbaum, Haus oder Einbauküche. Allerdings waren wohl persönliches Verhandlungsgeschick und Beharrungsvermögen nicht unwichtig dafür, was am Ende für jeden herauskam, die Neiddebatte jener Tage jedenfalls wirkt bis heute nach. Mehr als 80 Millionen Euro, so die offizielle Zahl, hat der Umzug gekostet, alles in allem war es wohl mehr. Ende 2004 wurde die Aktion abgeschlossen, doch bis sich jeder eingerichtet hatte, dauert es noch Jahre.
Dann kam der September 2010, die Deutsche Flugsicherung (DFS) legte erstmals ihre Routenplanung offen. Plötzlich war von Geradeausstarts nicht mehr die Rede und es wurde klar: Neu-Diepensee wird vom Fluglärm eingeholt. Sogar direkte Überflüge schienen zunächst nicht ausgeschlossen, nach einigem Hin und Her wurden daraus Flüge über der nahen Autobahn.
»Wir haben das Vertrauen in die Politik verloren«, sagt Mayer. Für ihn ist klar, dass verantwortliche Stellen schon in den 90er Jahren wussten, dass es keine Geradeausstarts geben wird, damals aber schwiegen, um die Standortdebatte nicht erneut zu befeuern. Tatsächlich heißt es auf der Webseite der Deutschen Flugsicherung: »Die DFS hat 1998 das entsprechende Ministerium darauf hingewiesen, dass bei unabhängigem Parallelbahnbetrieb bei Abflügen 15 Grad abgekurvt werden muss.« Auch Ortsbeirat Gleißner ist voller Zorn. Umsiedlung, Neueinrichtung, jetzt die Flugrouten – das Dorf käme nicht mehr zur Ruhe. Und: »Der Korridor für die Flugkurve über der Autobahn ist so schmal, dass man auch weiterhin sogar mit direkten Überflügen rechnen muss.« Und dann: Die derzeitige Routenführung kam nach Gleißners Überzeugung vor allem auf Druck einflussreicher Leute, etwa in Zeuthen, zustande. Zeuthen, etwas weiter nördlich gelegen, ist ein Berliner Villenvorort, der eigentlich überflogen werden sollte.
Doch es gibt auch andere Stimmen, gerade unter den Älteren. Protest gegen den Flugplatz als solchen ist laut Umsiedlungsvertrag ohnehin verboten. Es hätte schlimmer kommen können, sagt etwa Ortschronist Günter Herwig, selbst einst IL-18-Pilot. »Die Maschinen sind doch heute viel leiser.« Und der Korridor, da ist Herwig sicher, wird eingehalten. »Das wird doch geübt.«
Im Ortsbeirat lächelte man sehr finster
»Wir müssen«, sagt Mayer, »wohl die Airport-Eröffnung abwarten, bevor wir weiteres unternehmen können.« Seit kurzem gibt es aber noch ein neues Problem mit der Flughafengesellschaft FBS. Denn diese will – wohl in der Hoffnung, dass sich die Routendebatte irgendwann legt – bislang grüne Flächen im Dorf vermarkten: 22 Häuser sollen entstehen, in Doppelreihe. Der Ortsbeirat, so das Ansinnen eines FBS-Vertreters auf der Juli-Sitzung des Ortsbeirates, möge die Änderung des Bebauungsplans alsbald abnicken.
Die Ortsbeiräte, so lässt sich die Sitzung zusammenfassen, lächelten sehr finster. »Man hatte zugesichert, dass der Dorfcharakter gewahrt bleibt«, so Wolfgang Paege, mehr als 30 Jahre lang Chef der Ortsfeuerwehr. Doch nun solle eine Wohnsiedlung entstehen, die 25 Prozent mehr Einwohner bedeute und an der zudem über Jahre – mit entsprechendem Baulärm für alle – gebaut würde. Ja, und was plane die FBS als Nächstes?
»Warum diese Eile?«, fragt der Ortsvorsteher. Erst die Flugrouten, nun das. Der Beirat besteht denn auch erst einmal auf einer Dorfversammlung. »Wir bestimmen nicht über die Köpfe der Leute hinweg. Und wir wollen nicht schon wieder ins Messer laufen.«
Der FBS-Entsandte beklagt an jenem Abend im Dorfgemeinschaftshaus von Neu-Diepensee zwar noch die Vermischung der Themen Flugrouten und Bebauungsplan. Doch immerhin verzichtet er auf die offizielle FBS-Argumentation. »Die Schwelle, ab wann der Mensch Lärm als störend oder belästigend empfindet«, so heißt es auf der FBS-Webseite, »hängt entscheidend mit der sozialen Akzeptanz des Lärms durch das betroffene Individuum zusammen.«
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