- Brandenburg
- Brandenburg
Kaisertheater am Rand
Die Stadt Wriezen will raus aus dem wirtschaftlichen Tief – mit einer zündenden Idee
Die Stadt Wriezen, eine Autostunde vom Berliner Zentrum entfernt, schmückt sich mit dem Beinamen Hauptstadt des Oderbruchs. Nicht offiziell, das darf sie nicht. Denn es gibt nur eine Hauptstadt. Nein, zwei. Eine für die Bundesrepublik und eine für Brandenburg. Kein Platz für eine dritte. Aber inoffiziell geht das: Hauptstadt des Oderbruchs.
Zunächst nannte sich Wriezen »Tor zum Oderbruch«. Doch das hatte wohl auch nicht den gewünschten Effekt. Tore zum Oderbruch gibt es viele. Und wer ins Oderbruch fährt, nimmt gewöhnlich andere Wege.
Die Kommune mit rund 7550 Einwohnern hat es schwer. Nennenswerte Industrie gibt es nicht, Sehenswürdigkeiten sind rar. Die wichtigste Herberge des Ortes liegt ein wenig versteckt am Stadtrand. Es ist die Jugendstrafanstalt an der Landstraße nach Berlin mit 220 Plätzen. Sie bietet immerhin 125 Wriezenern und Sympathisanten Lohn und Brot. Die Stadt hat im Zweiten Weltkrieg sehr gelitten und sich von diesem Schicksalsschlag nie so richtig erholt, nie erholen können.
Wriezen muss sich nicht in Quadratkilometern messen lassen. Hektar ist das ideale Flächenmaß: insgesamt 9462,3. Das klingt groß.
Wer nach 18 Uhr Wriezen besucht, der fühlt sich wie in einer Geisterstadt. Hier ist die Welt zu Ende. Dieses Los teilt Wriezen mit vielen brandenburgischen Ansiedlungen. Selbst am Markttag erstirbt nach dem Abbau der Stände das Leben. Der 300 Meter lange Wriezener Prachtboulevard, die Wilhelmstraße, döst vor sich hin.
Am Sonntag um die Mittagsstunde: Nicht ein einziger Mensch weit und breit. Kein Café, kein Restaurant, nur Ramsch in allen Varianten hinter verschlossenen Schaufenstern. Die Dekorationen, auch die der Bäckerei, sind von maritimen Utensilien geprägt.
Was also tun, mögen sich die Stadtväter immer und immer wieder gefragt haben. Eine Antwort ist bis heute nicht gefunden. Oder doch? »Es ist an der Zeit, unserer Stadt thematisch für den Handel ein unverwechselbares Gesicht zu geben«. Zu dieser Feststellung kommt nun Bürgermeister Uwe Siebert nach vielen Jahren des Nachdenkens. »Wriezen wird sich auch mit aktuellen Angeboten gemeinsam auf Produkte, Dienstleistungen und Events der Jahrhundertwende spezialisieren.«
Gemeint ist nicht die Wende zum 21. Jahrhundert. Der Blick geht um weitere hundert Jahre zurück. Die Kaiserzeit soll wieder auferstehen. Nicht durch einen Kaiser's-Supermarkt, sondern durch die echte Kaiserzeit. Dazu entwickelten Geschäftsleute »die neue Wriezener Kaiserzeitstrategie«. Kein Witz! Die Kaiserzeit von 1871 bis 1918 soll genutzt werden, »um ein unverwechselbares Standortkonzept zu entwickeln«. »Leben und Einkaufen wie zu Kaisers Zeiten« ist das Motto, und damit sollen Besucher aus dem Umland und aus Berlin angezogen werden. »Made in Wriezen« soll für besondere Qualität stehen, heißt es dazu in einem eigens gedruckten, bunten Magazin.
Erste Ideen gibt es: ein Wilhelmbrot, den Kaisersenf, den Wilhelmcocktail oder ein »aktuelles Parfum in einer speziellen Prinzessin-X-Verpackung«. Eine »Arbeitsgemeinschaft Wriezener Kaiserhändler« wurde geboren. Und am 3. September soll es richtig losgehen – mit einem Wriezener Kaisermarkt: Ein Mini-Zeppelin soll seine Majestät Wilhelm I. einschweben lassen, Händler in typischer Kleidung und Frisur sollen auf den Straßen lustwandeln, Zarah Leander singt im Hintergrund, eine zeitgenössische Bademode wird präsentiert, Kinder sausen mit hölzernen Laufrädern vorbei. Die Kaiserzeit soll der Stadt Einmaligkeit verleihen. Alles nachzulesen im Magazin.
Doch wie war Leben und Einkaufen zur Kaiserzeit eigentlich? Ging es da nicht recht elend zu an diesem Ort? Wie war das Freizeitangebot vor 120 Jahren? Kamen da die Berliner wegen Kaiserattraktionen nach Wriezen? Rummel gibt es in Berlin wirklich genug. Zu allen Jahreszeiten. Dazu muss man nicht nach Wriezen. Wie groß muss die Verzweiflung sein? Berlin kriegt sein Schloss, dann kriegen wir unseren Senf.
Wie die Kaiserzeit endete, ist allgemein bekannt. Sie endete mit einer Katastrophe. Der letzte deutsche Kaiser, der seine Untertanen in den Ersten Weltkrieg und damit ins Elend stürzte, wurde hinweggefegt. Wem das Ganze zu albern ist, der kann ja einen Tag nach der Kaiserluftblase am 4. September nach Wriezen kommen. Da gibt es ein Entenwettrennen. Eine Rennente kann käuflich erworben werden.
Tatsächlich sehr empfehlenswertes Theater gibt es übrigens im Theater am Rand. Es spielt nicht in Wriezen, sondern im zehn Kilometer entfernten Zollbrücke. Zu erreichen ist dieser Ort auch über das Tor zum Oderbruch, über Wriezen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!